Januar 2009 / PLAYBOY / Text

Hängepartie

High Tech wird immer kleiner. Nur nicht auf dem Bau: Hier verlangen immer größere Bauteile nach immer größeren Kränen. Zwei dieser Riesensaurier haben wir in Polen gesichtet

Die beiden Monster strecken sich gewaltig. Gute sechzig, vielleicht siebzig Meter ragen ihre tonnenschweren Arme in den nebligen Abendhimmel. Sie drehen sich, sie winden sich, langsam, aber zielsicher. Ihr tiefes Wehklagen tönt durch die Herbstluft – es klingt wie Walgesang oder wie der Soundtrack von „Jurassic Park“.

 

Die beiden Dinos tragen profane Namen: LG 1750 und LR 1750. Beides Serienanfertigungen. Riesige Kräne, der eine auf einer Raupe unterwegs, der andere auf Rädern, auf 16 mannshohen Reifen. Monstergeräte, die Filigranarbeit leisten. Denn hier und heute kommt es auf jeden Millimeter an. Jede Unstimmigkeit zwischen den Kränen, die gemeinsam ihre Last nach oben hieven sollen, hätte fatale Folgen.

 

Nur für Männer wie Franz Schöberl, 52, und Manfred Kapeller, 44, ist das ein Routinejob. Die beiden Kranführer wissen genau, wie sie die beiden Hauptfiguren in diesem Logistikspektakel dirigieren müssen. Denn LG 1750 und LR 1750 tun, was immer man ihnen befiehlt. Dafür haben sie Joysticks und Monitore, auf denen dreistellige digitale Zahlenkombinationen durcheinander wirbeln.

 

Eine Zementfabrik in Piechcin, mittendrin in Polen. Zur Modernisierung der Fabrik wurde ein gigantisches Silo gebaut – 37 Meter hoch, aus Beton. Nur das Dach fehlt noch. Es liegt fertig verschweißt und montiert neben dem Silo. Wie schwer es ist, kann keiner exakt sagen: Laut Berechnungen irgendetwas zwischen 340 und 370 Tonnen. Aber genau wird man das erst wissen, wenn die Kräne das Riesendach angehoben haben. Und erst dann wird sich zeigen, ob auch genug Ballast aufgelegt wurde, ob alles statisch passt und ob die Schweißnähte überhaupt halten.

 

Noch nie wurde in Europa ein Gegenstand mit einem solchen Durchmesser gehoben: 58 Meter, deutlich größer als die Kuppel des Petersdoms. „Noch nie“ – das kennt Gottfried Hrast, der Einsatzleiter. Der 61-Jährige, kaum 1,60 Meter groß, ist er der wahre Herr über die Riesenkräne. Sein Mantra lautet: „Ruhe, Ruhe, Ruhe. Nur nicht nervös werden.“ So wie 2004 in Athen: Da waren sie beim Bau des Olympiastadions hoffnungslos in Verzug. Hrast mit seinen Kränen und seiner ruhigen, präzisen Art hat „die Olympischen Spiele gerettet“. Er sagt es nur halb im Spaß.

 

Heute nerven ihn die Sicherheitsauflagen der polnischen Behörden. „Sicherheit geht vor, ja ja, aber bei so viel Sicherheit, da kannst ned arbeiten“, sagt Hrast in seinem kehligen Tiroler Dialekt. Es ist ja noch nie was passiert. Seit 40 Jahren ist Hrast im Kran-Geschäft, „da kennst die Materie“. Nur ein einziges Mal kam er in Schwierigkeiten, noch zu DDR-Zeiten in den Achtzigern. Als er im Leuna-Chemiewerk mit einem Dreißigtonner umkippte. Alles drehte sich, er war kopfüber irgendwo gegen geprallt, und kurz durchzuckte es ihn: „Jetzt bist tot.“ War er aber nicht. So haben sie den Kran schnell wieder hingestellt, und weil es schon Abend war, hat keiner was mitbekommen.

 

Wer mit Riesenkränen ein Riesendach auf ein Riesensilo heben will, muss warten können. Sehr lange warten. Lähmend langsam gehen die Aufbauten voran. Bis die Statiker wieder irgendetwas neu berechnet haben, bis die Sicherheitsmenschen grünes Licht geben – immer warten. Bis es endlich wieder weitergeht, nach zehn Minuten oder nach zehn Stunden. Eine gute Woche haben zehn Mann täglich zehn Stunden gearbeitet, um die zwei Kräne aufzustellen.

 

Drei Monate hat die Vorbereitungszeit insgesamt gekostet. Allein zwei Wochen hat man in der Projektabteilung der österreichischen Firma Felbermayr an der „Method Study“ herumgerechnet. Bis alles im Rechner durchsimuliert war, die genaue Position der Kräne, jede ihrer Bewegungen. Funktionieren soll es nun so: Beide Kräne heben das Dach bis auf 40 Meter. Dann fährt der Raupenkran – der andere bleibt stehen – langsam einige Meter zurück, während gleichzeitig beide einschwenken und das Dach auf dem Silo absetzen.

 

Die Raupe, den LR 1750, mussten 76 Schwertransporter nach Piechcin verfrachten. Doch der Aufwand lohnt, sagt Radoslaw Buchta von der polnischen Baufirma Zeman HDF, der Auftraggeber. „So konnten wir simultan arbeiten“, sagt er. „Es hätte fünf Monate länger gedauert, das Dach erst auf das fertige Silo zu bauen.“ Die Polen haben alles vorbereitet. Haben den Boden verdichtet, damit der Kran auch wirklich aufgestellt werden kann. Haben Schotter und Beton Schicht um Schicht aufgetragen, damit die Kräne mit ihrer Last von bis zu 750 Tonnen sicher stehen. „Des hams gut gemacht“, lobt Hrast. Er lobt nicht oft.

 

Hrast ist müde. Nicht nur heute, sondern überhaupt. „Seit 40 Jahren bin ich unterwegs“, denn gebaut in dieser Größenordnung wird überall auf der Welt, ständig und immer aufs Neue. Aber nie dort, wo sein Zuhause ist. „Es bleibt so viel zurück, das kann man nie mehr aufholen“, sagt er. Sein Urlaub dieses Jahr: drei Tage Adria. Nächstes Jahr will er sich zur Ruhe setzen. Auf Johannesburg, wo beim Stadionbau für die WM 2010 bald die Kräne seines Arbeitgebers stehen werden, kann er gut verzichten.

 

Die letzten Gegengewichte sind montiert, die Behörden scheinen besänftigt. Kranführer Manfred hat sich noch einmal aufgeregt, hat auf seinen Kollegen Franz geschimpft. Die beiden wirken wie ein altes Ehepaar, fast wie Walter Matthau und Jack Lemmon. Denn trotz all der Streiterei, wo der eine den anderen gepflegt als „Depp“ oder „Oarsch“ bezeichnet, können die zwei nicht ohne einander. Sie müssen filigran zusammenarbeiten. Die Choreografie hier ist Handarbeit. Weicht einer nur Millimeter ab, kann das bei diesen Hebelverhältnissen an anderer Stelle eine Abweichung von einem halben Meter ergeben. Gefährlich viel.

 

Um kurz nach fünf am Freitagnachmittag, nach über einer Woche des Aufbauens und Wartens, hebt das Dach ab. Der weiße Stahlkoloss schwebt etwa 50 Zentimeter über den Stützen. Hrast ist zufrieden, das Dach hat sich kaum verwunden. Das Warnlicht bei Kranführer Franz blinkt aufgeregt. Er hat seine Weste und seinen Helm drübergehängt – so kriegt es keiner mit. Denn wenn die übereifrigen Sicherheitsaufseher irgendwo irgendwas blinken sehen, muss wieder alles neu berechnet werden, dann kommt vor Mitternacht keiner ins Bett. Franz weiß, was richtig ist und was gefährlich, viel besser als jede Warnlampe.

 

Nach einer Viertelstunde ist der Test vorbei: Alles hält, Wind moderat. Jetzt geht es nach oben, mit einer für die Zähigkeit der letzten Tage atemberaubenden Geschwindigkeit. Nach zehn, fünfzehn Minuten wirkt das Dach, von unten mit goldgelbem Licht beschienen, völlig unwirklich. Wie ein Ufo, das majestätisch abhebt in die Dämmerung. Independence Day in Piechcin.

 

Gottfried Hrast ist in einen roten Käfig geklettert und wird nach oben gehoben. Er muss mit dem Dach auf gleicher Höhe bleiben, um die Balance zu kontrollieren. Hin und wieder raunzt er in sein Walkie-Talkie, das am Kragen klemmt. So etwas wie „Manfred, stopp“, wenn der zu schnell hebt. Das Dach hat den höchsten Punkt erreicht, jetzt wird eingeschwenkt und abgesetzt. „Den Rest machen’s allein“, sagt Hrast und meint Manfred und Franz. Nach zwei Stunden ist das Dach auf dem Silo. Die Kräne haben ihren Job erledigt.

 

Der LG 1750 darf noch hierbleiben, für letzte Arbeiten am Silo. Der Raupenkran LR 1750 muss weiter, noch am Abend werden ihm die ersten Teile abgeschraubt. In drei Tagen muss alles verladen und auf dem Weg nach Niederösterreich sein. Dort ist eine Trockentrommel in einem Spanplattenwerk zu montieren. Eine sehr große.