Oktober 2008 / PLAYBOY / Text

Der Prügelknabe

Vor Kurzem war Firat Arslan noch Türsteher in einer Disco und Fallobst für die richtigen Boxer. Jetzt ist er Weltmeister. Die Geschichte eines Wunders

Seit Monaten nervt ihn sein Freund Bernd: Er will ihn zum Boxtraining schleppen. Aber Firat lacht nur. „Schau uns doch an“, sagt er und zündet sich noch eine Zigarette an: „Die töten uns im Ring.“ Rauchen, saufen, feiern – das können sie. Aber boxen? Klar, in der Schule hat man sich geprügelt, man musste sich ja Respekt verschaffen. Aber richtig boxen?

 

„Respekt“, das ist noch heute Firats Lieblingswort, in jeden zweiten Satz strickt er das Wort hinein. Viel zu lange hat er keinen Respekt bekommen. Umso mehr fordert er ihn jetzt ein. Als kleiner Junge hat Firat, das Türkenkind, viel einstecken müssen. Seine Mutter zieht ihn und einen Pack Brüder allein auf. Er wird gemobbt, er schlägt zurück. Dem ein oder anderen macht er Angst – aber Respekt bekommt er nicht.

 

An diesem Abend mit Bernd vor 19 Jahren drückt Firat seine Zigarette aus und sagt: „Was soll’s, morgen fangen wir mit dem Boxen an.“ Und dann sagt er noch: „Ich werde Weltmeister.“ Was man halt so sagt als 18-Jähriger. Was dann passiert, ist ein Wunder. 19 Jahre später ist Firat Arslan aus Süßen bei Stuttgart tatsächlich Weltmeister, WBA-Weltmeister im Cruisergewicht. In einem unermüdlichen Kampf gegen den Favoriten Virgil Hill holt er sich den Titel. Wer mit 18 das Boxen beginnt, ist viel zu spät dran, um noch etwas zu werden. Mit 18 ist die Technik kaum noch zu korrigieren. Eigentlich. Aber Firat will das Gegenteil beweisen.

 

Das Glück, entdeckt und gefördert zu werden, hat Arslan lange Zeit nicht. Er ist Anfang zwanzig und immer noch Wasserträger. Fahrer und Sparringspartner, der Depp der Kompanie. Er darf den württembergischen Meister, Trainers Liebling, zu seinen Kämpfen fahren. Ihn selbst ignoriert der Trainer. Er brüllt ihn nicht an, erklärt ihm nicht seine Fehler, schmeißt ihn nicht raus – er ignoriert ihn einfach. Erst nach drei, vier erbärmlichen Jahren, da sagt der Trainer: „Firat, ich hab noch nie einen gesehen, der so schlecht boxt und dabei trotzdem so gut aussieht. Zeit, dass du boxen lernst.“

 

Endlich interessiert er sich für ihn. Arslan bekommt einen deutschen Pass und wird ein passabler Amateurboxer. Mit 27 ist er Profi. Aber Profi zu sein heißt nicht, dass Firat vom Boxen leben kann. Er jobbt als Kaufhausdetektiv und öffnet in schmierigen Stuttgarter Clubs die Tür. Mit Mitte dreißig, ein Profiboxer als Türsteher. Trotzdem macht Arslan weiter. Die Härte, mit der er sich durchs Leben boxt, zeigt er auch im Ring. „Wenn ich wüsste, dass ich sterbe, ich würde weiterkämpfen“, sagt er. Es klingt, als hätte er ein bisschen zu oft „Rocky“ gesehen.

 

Aber so ist Firat: Einmal ist sein Kiefer doppelt gebrochen – doch er kämpft weiter. Was bei anderen zum heroischen Akt stilisiert wird, erfährt bei Arslan gar keiner. „Ich habe mich geschämt zuzugeben, dass mir jemand den Kiefer gebrochen hat.“ Immer wieder erlebt er diese Momente, wo er hätte aufhören müssen. Und immer, sagt er, „ist dann ein Zeichen von Gott gekommen“.

 

So wie 2001. Arslan ist als Profi mäßig erfolgreich. Er fliegt nach England – er ist alt und braucht das Geld. Zweimal in Folge hat er verloren, diesen einen Kampf will er noch probieren. Eine Niederlage, schwört er sich, und er hört auf. Doch Arslan hat zu wenig Trainingszeit, der Gegner ist zu schwer für ihn: Arslan wird übel verprügelt. Sein Trommelfell platzt in Runde zwei, er weiß kaum noch, wo rechts und wo links ist im Ring. Nach der sechsten von acht Runden kauert er in der Ecke und denkt: „Das war’s dann wohl.“ Nach Punkten liegt er hoffnungslos zurück. Er betet. Dann die siebte Runde. Arslan setzt drei Aufwärtshaken, links, rechts, links – Mark Hobson platzt die Augenbraue. Blut spritzt. Aufgabe. Arslan hat gewonnen. Ein Zeichen.

 

Doch auch danach läuft es für ihn nicht wirklich besser. Man holt ihn als Aufbaugegner, als Fallobst. „Mein Foto war oft nicht mal auf dem Plakat des Kampfabends.“ Ein Niemand, mit 35. Zäh boxt er sich in die Weltrangliste. Immer noch ohne großes Management. Er klopft bei Universum an – mitleidiges Kopfschütteln. Schließlich holen sie ihn – als Prügelknaben für Grigory Drozd. Denn der, Drozd, der wird einer. Denken sie. 25 Kämpfe, 25 Siege, die meisten durch K.o. Da kommt dieser etwas zu wilde, etwas zu alte Boxer Arslan gerade recht.

 

In Runde fünf passiert, was niemand vermutet hätte. Der Ringrichter bricht den Kampf ab. Er entscheidet, dass Firat Arslan zu stark, zu gut, zu überlegen für seinen Gegner ist. Bald ist er, Firat, die Nummer eins der Weltrangliste. Nächste Station: WM-Kampf. „Jetzt bin ich endlich da“, denkt er. Am Ziel, mit 36 Jahren – ein Box-Opa. Bis man ihm sagt, er müsse noch einen Gegner aus dem Weg räumen. Dann bekomme er seinen großen Kampf. Er könnte lamentieren, stattdessen beißt Arslan die Zähne zusammen: „Scheiß drauf, kämpfe, besieg ihn, dann hast du deinen großen Kampf.“ So wird auch der Russe Valery Brudov Opfer der Arslan-Taktik: den Gegner entnerven, indem man die härtesten, gezieltesten Schläge einfach wegsteckt. Dann selbst wild draufloshauen. „Box-Bulldozer“, „Kampfmaschine“, „Haudrauf“ – so nennt man ihn.

 

Im November vorigen Jahres dann besiegt er Virgil Hill, den Mann, der einst Henry Maskes Karriere beendete. Firat Arslan ist Weltmeister. Im Frühjahr verteidigt er erstmals den Titel, und jetzt, am 27. September – einen Tag vor seinem 38. Geburtstag –, steht die nächste Titelverteidigung an. Bernd bekommt heute noch glasige Augen, wenn er an Firat denkt – den Jungen von damals, den Weltmeister von heute. Bernd fing damals nach einer Woche wieder an zu rauchen, nach vier Wochen hörte er mit dem Training auf.