Juni 2015 / Allianz Magazin 1890 / Text

Vom anderen Stern

Deutschlands Fußballerinnen haben einen Traum: Sie wollen Weltmeister werden, zum dritten Mal nach 2003 und 2007. Vor dem Turnier in Kanada reisten wir mit der Nationalelf und ihren Helfern nach Portugal – und sahen: Sie sind bereit

Ein zerknitterter Zettel liegt in einem Koffer. Wer das Papier herausnimmt und glatt streicht, erkennt darauf: 19, 13, 1, 21, 16, 17. Stephan Borde kann sich viel merken, doch den geheimnisvollen Zahlencode braucht er schriftlich. Er arbeitet als Zeugwart beim Deutschen Fußball-Bund und betritt nun als Erster die Kabine im Bauch des Stadions, gefolgt von Physiotherapeut Martin Felgenhauer. Beide tragen Alukoffer herein sowie Plastikkisten mit Bananen, Sojamilch, Honig und Trockenobst. Borde ruft von einem weiß gekachelten Raum in den anderen: »Wo stellen wir das Eisbecken hin?« Ansonsten sind kaum Worte notwendig, jeder Handgriff wirkt wie einstudiert. Borde nimmt besagten Zettel aus dem Koffer und murmelt: »19, 13, 1, 21 …« Nebenan legt Felgenhauer Handtücher auf zwei Liegen. Es riecht nach Massageöl und Hansaplast.

 

Seit 2011 ist Borde Zeugwart des A-Nationalteams der Frauen. Die Vorbereitung der Kabine zwei Stunden vor einem Spiel ist nur eine seiner Aufgaben. Ansonsten wäscht er Trikots und Hosen, organisiert Getränke oder geht »auch mal schnell zum Lidl, um für den Physio ein paar Taschentücher zu holen«, sagt Borde. Die beiden Männer gehören zum »Team hinter dem Team«. Zu den unverzichtbaren Menschen am Rand einer Profimannschaft, die selten gesehen werden.

 

Wie alle hier haben auch sie einen Traum, über den sie nur ungern offen sprechen. Da muss man schon Annike Krahn fragen, mit ihrem westfälischen Pragmatismus und den weit über 100 Länderspielen. »Wenn ich ein Spiel spiele, wenn ich an einem Turnier teilnehme, dann möchte ich es auch gewinnen«, sagt sie und macht dabei hinter jedem Wort einen Punkt. Oder ein Ausrufezeichen. Andere sind zurückhaltender, aber natürlich wollen sie es alle: Weltmeister werden. Und die Arbeit an diesem Projekt läuft hochkonzentriert. Der Algarve Cup, bei dem Borde gerade die Kabine für das Gruppenspiel gegen Brasilien bereitet, ist der letzte große Test vor der WM im Juni und Juli 2015 in Kanada.

 

Fußball steht für alle an erster Stelle. Wenn Melanie Leupolz vom FC Bayern aufzählt, wann sie trainiert, nennt sie jeden Wochentag. Außer Dienstag. Aber da geht sie zur Physiotherapie oder in die Sauna. Oft trifft sich das Team sogar zweimal am Tag. Und sonntags: Ligaspiel. Aber damit nicht genug. »Ich muss an meinen Schwächen arbeiten, da reicht das Mannschaftstraining nicht«, sagt Lena Petermann, die in Portugal ihr Debüt im A-Team gibt. Oft ist sie eine Stunde vorher auf dem Platz, um »Schnelligkeit, Ballkon­trolle und den linken Fuß« zu optimieren. So geht das seit Monaten: Die Spielerinnen geben viel für den Titeltraum. Auch ohne Ball. »Bei allem, was ich mache, achte ich darauf, dass es nicht zu anstrengend ist, dass ich genug schlafe, Kräfte sammle und mich richtig ernähre«, sagt Leupolz. Das Fundament der Träume scheint aus Arbeit betoniert zu sein. Leupolz sieht es anders: »Wir machen das gern. Deshalb kann man nicht von Arbeit sprechen. Sondern von der Lust, besser zu werden und erfolgreich zu sein.«

 

Der Frauenfußball hat sich enorm entwickelt. »Das ist nicht mehr mit früher vergleichbar. Wer weit kommen will, muss viel mehr investieren. Und natürlich geht dabei auch ein Stück Jugend verloren«, sagt Annike Krahn. »Es ist schneller geworden, technisch anspruchsvoller, von daher muss man mehr tun«, sagt Babett Peter, die wie Krahn schon 2007 im Kader stand, als Deutschland zuletzt Weltmeister wurde.

 

Elf Freunde müsst ihr sein – das war schon immer Wunschdenken, bei Männern wie Frauen. »Zur Professionalität gehört, dass man sich in einer Gruppe einfügen und unterordnen kann«, sagt Melanie Leupolz, 21, mit einer erstaunlichen Abgeklärtheit. Der Teamgeist der DFB-Elf ist etwas Besonderes. Das betont auch Bundestrainerin Silvia Neid nach dem mit 3:1 gewonnenen Spiel gegen Brasilien: »Wir haben uns alle ständig gegenseitig geholfen«, sagt sie. Für ein WM-Turnier, das wochenlang dauert, ist die Stimmung im Team ein wichtiger Erfolgsfaktor. Und da sieht Silvia Neid große Stärken in ihren Reihen: »Das sind alles tolle Persönlichkeiten, intelligente Menschen, die immer den Anspruch haben, sich zu verbessern und an sich zu arbeiten. Es macht sehr viel Spaß, mit ihnen zu arbeiten.«

 

Lange bevor Borde und Felgenhauer Koffer und Bananen in die Kabine bringen konnten, war Patrizia Hell in Portugal, um die Lage zu sondieren. Sie ist Teamadministratorin und »locker jedes Jahr 100 Tage unterwegs«, sagt sie. Allein für die Frauen-Nationalelf. Wie alle im Umfeld hat sie ein Mantra: »Die Spielerinnen sollen sich auf den Sport konzentrieren. Einfach da sein, irgendwo einsteigen und dann gehtʼs weiter.« Hell sorgt dafür, dass es nie hakt. Gemeinsam mit dem DFB-Reisebüro sucht sie ein Hotel mit Trainingsplatz, organisiert Testspielgegner sowie Busse, Flüge, Taxis.

 

Sie muss stets improvisieren. Als sich Luisa Wensing beim Algarve-Cup-Spiel gegen China das Wadenbein brach, hieß das für Hell: an die Arbeit. Noch im Stadion recherchierte sie Flüge, damit die Spielerin bald in der Heimat weiterbehandelt werden konnte. Um die Erstversorgung auf dem Feld kümmerte sich Teamarzt Dr. Bernd Lasarzewski. Und noch bevor die Mannschaft nach dem Spiel im Hotel war, hatte Patrizia Hell alles gebucht. »Man kann planen, wie man will, es läuft immer etwas anders«, sagt sie.

 

Erst wenn die Teamadministratorin ihren Job vor dem Turnier erledigt hat, kann Zeugwart Stephan Borde einpacken. Kurz vor der Abreise Richtung Kanada muss er in den, wie er sagt, »riesigen Lagerhallen« des DFB-Depots in Heusenstamm rund fünf Tonnen Material verschnüren, auf Paletten verladen und der Spedition Bescheid geben. 16 Paletten und an die 30 Alukoffer waren es bereits für den Algarve Cup. Und der dauert nur eine Woche. Darunter enorme Mengen an Textilien: Trikotsätze in drei verschiedenen Farben, jeweils Langarm- und Kurzarmversionen, mit Sponsorenlogos, ohne Sponsorenlogos, Trainingsequipment für Team und Betreuer. Aber auch all das, was die Ärzte für ihre Arbeit brauchen. Auch das, was Köchin Sophia Neuendorf ihm schickt, muss demnächst über den Atlantik: Elektrogeräte, Mixer, Messer, Pfannen. »Köche arbeiten eben am liebsten mit ihren eigenen Sachen«, sagt Borde.

 

Der DFB tut gut daran, seinen Frauen beste Bedingungen zu schaffen. Denn bei den Mädchen wächst der größte Fußballverband der Welt noch immer überdurchschnittlich. Seit 2004 stieg der Anteil der weiblichen Mitglieder um 27,1 Prozent, während es bei den Männern »nur« 6,4 Prozent waren. Was natürlich daran liegt, dass die von jeher stark vertreten waren. Beim Handball oder Tennis gehen die Mitgliederzahlen stetig zurück, beim Fußball wurde die Millionengrenze locker überschritten – und damit ist Fußball bei Frauen längst der beliebteste Sport. »Ich denke, die Entwicklung wird kontinuierlich weitergehen. Es wird immer neue Trends geben, Weiterentwicklungen in der Trainingsdiagnostik, Trainingssteuerung, im taktischen Verhalten«, sagt Bundestrainerin Silvia Neid.

 

Man könnte sagen, dass daran rund um die Uhr gearbeitet wird. Denn wenn die Spielerinnen nach dem Match in ihren Zimmern verschwinden, geht es für Jan Heidermann erst los. Der Videoanalyst hat nach dem Spiel mit den Trainerinnen gesprochen und macht sich nun daran, das gedrehte Material zu sichten und die Szenen herauszusuchen, die Silvia Neid und Co-Trainerin Ulrike Ballweg ihren Spielerinnen zeigen wollen. Dabei nutzt er eigenes Material. »Das Fernsehen zeigt nur einen kleinen Ausschnitt, wir aber wollen alle Feldspielerinnen im Bild haben, um taktische Abläufe gut zu erkennen«, sagt er. Um die 20 Szenen pro Partie pickt er heraus, jede bis zu 30 Sekunden lang. Manchmal sitzt Heidermann bis zum Morgengrauen am Laptop.

 

Dann kann es passieren, dass er Oliver Heine begegnet, der gerade seinen Arbeitstag beginnt. Denn noch vor dem Frühstück gegen sieben Uhr nimmt er den Spielerinnen Blut ab. Der Leistungsdiagnostiker vom Olympiastützpunkt Köln baut in jeden zweiten Satz Wörter ein wie »Physiologische Parameter« oder »Herzfrequenzvariabilität«. Letztere kontrolliert er mit Pulsmessern während des Trainings. Mit diesen Werten und nach Analyse des Blutes erkennt er, wie das Training auf die einzelne Spielerin wirkt. So weiß Silvia Neid, wer geschont werden sollte und wer noch Bedarf hat. Bislang machte Heine das vor allem bei Einzelsportlern, seit Februar 2015 auch bei der Frauen-Nationalmannschaft. Wieder einer mehr, der am Titelprojekt mitbastelt.

 

Für Torfrau Nadine Angerer, schon seit 1996 im A-Kader, ist das alles phänomenal. Sie staunt, wie sich über die Jahrzehnte »das Team hinter dem Team extrem vergrößert hat und wir in allen Bereichen Experten hier haben«. Und Babett Peter ergänzt: »Man darf nie ruhen oder rasten. Wir werden hier so gut wie möglich betreut, da haben wir Spielerinnen die Verantwortung, an jeder kleinen Stellschraube zu drehen, um noch ein oder zwei Prozent rauszuholen.«

 

Zimperlich dürfen sie nicht sein. Denn das Team dahinter fordert vom Team vorne ziemlich viel. Und der Umgangston ist freundlich, aber zielorientiert. Nach der Niederlage im Gruppenspiel gegen Schweden beim Algarve Cup, den Deutschland schließlich auf Platz drei beendete, sagte Teammanagerin Doris Fitschen: »Wir waren mit den Spielerinnen nicht zufrieden. Das haben sie analysiert bekommen.« So wie sie das sagte, möchte man nicht allzu oft etwas »analysiert bekommen«. Und als im Training Torhüterin Almuth Schult eine missglückte Parade selbstkritisch mit »Oooh, schlecht« kommentiert, entgegnet ihr Torwarttrainer Michael Fuchs trocken: »Ja!« Dem einzigen Mann im sportlichen Bereich ist es egal, ob sein Schützling nun männlich oder weiblich ist. Wenngleich es Unterschiede gibt. »Mädels machen sich mehr Gedanken über das Leben an sich und sind oft an einem harmonischen Miteinander interessiert, während Jungs sich öfters anfetzen«, sagt Fuchs, der einst Andreas Köpke beim 1. FC Nürnberg scheuchte. Und auch er musste sich umstellen, denn: »Frauen sind akribischer, genauer. Wenn ich mal sage: ›Ach, passt schon irgendwie‹, dann erklären sie mir, dass es eben nicht passt.«

 

Nach einer Stunde hat Stephan Borde die Kabine fertig. Den Zettel kann er jetzt wegpacken. Die ominösen Zahlen sind die Trikotnummern, denn es gibt eine feste Sitzordnung. Da darf er nichts durcheinanderbringen, denn auch das ist vielleicht ein winziger Beitrag zum Erfolg. »Hier wird nichts dem Zufall überlassen«, sagt Pressesprecherin Annette Seitz. Sie lächelt. Aber natürlich meint sie es ernst. Es herrscht Schicksalsverbot. Im Turnier aber, wo sich alles entscheidet, zählt die Akribie der Vorbereitung: rein gar nichts. Chaos, Karten, Brüche und Katastrophen, Komödien und Heldensagen – in 90 oder 120 Minuten kann viel passieren, auch Zufälliges. Darum ist Fußball so groß. Mögen die Spiele beginnen.