Juli 2015 / LAMBORGHINI MAGAZIN No. 16 / Text

Hightech Vision: Natur

Die Menschheit steht vor einem Paradigmenwechsel: Weltweit gelingt es Wissenschaftlern immer besser, der Natur ihre genialen Tricks abzuschauen. Bionik heißt das Zauberwort, zusammengesetzt aus Biologie und Technik. Sie wird unsere Welt revolutionieren

Es geht nichts über Erfahrung. Wer weiß, was er tut, wer vieles schon ausprobiert, verworfen oder verfeinert hat, wer unter allerlei widrigen Umständen Lösungen finden musste, der hat im Bedarfsfall immer eine Lösung. Erst recht, wenn er die Erfahrung als Designer, Chemiker, Konstrukteur und Erfinder in beachtlichen 3,8 Milliarden Jahren ansammeln konnte. Man ahnt es: Derlei umfangreiches Wissen hat allein die Natur zu bieten. Höchste Zeit, bei ihr in die Lehre zu gehen. Seit einigen Jahren ist der Mensch daher eifrig dabei, ihre Methoden zu kopieren und für sich zu nutzen. „Bionik“ heißt das Prinzip, das in den kommenden Jahren ein beherrschendes Thema werden wird. Gut, dass die Natur kein Patentamt kennt.

 

Für Themas Speck sind es die „Wow-Effekte“, die seinen Job so spannend machen. Speck ist Professor für Botanik an der Universität Freiburg und einer von Deutschlands profiliertesten Bionikern. So einen Wow-Effekt hatte er, als er vor vielen Jahren im südamerikanischen Urwald eine 800 Meter lange Liane untersuchte und staunend feststellte, „was da für ein Wunderwerk an Mechanik und Leitelementen drinsteckt“. Und die Liane kann sich im Bedarfsfall auch noch selbst reparieren. So etwas in technisch nutzbare Systeme umzusetzen, das sei seither seine Triebfeder. „Wir leben im goldenen Zeitalter der Bionik, denn es passt einfach alles zusammen“, sagt er, ganz unwissenschaftlich begeistert.

 

Denn zum einen sind die Möglichkeiten der Analyse deutlich besser geworden. Jetzt kann man der Pflanze und dem Tier auf einer molekularen Ebene näherrücken, „wie das vor 20 Jahren noch unmöglich war“, sagt Speck. Oder damals nur mit Geräten, die für eine herkömmliche Uni unerschwinglich waren. Nunmehr kann nahezu überall geforscht werden. Auch ist es dem Menschen durch die Entwicklung von 3D-Druckern oder Verfahren wie dem Lasersintern erstmals möglich, so wie die Natur zu bauen. Von klein zu groß nämlich, am besten Stück für Stück und Schicht für Schicht. Auch die Materialien (wie etwa bestimmte Kunststoffe) wurden in den letzten Jahren immer besser und sind inzwischen geeignet, die Natur explizit zu kopieren. Ganz zu schweigen von der immer höheren Rechenleistung moderner Computer, die notwendige Simulationen erst möglich machen.

 

Und schließlich sind heutzutage Begriffe wie „Umweltschutz“ oder „Nachhaltigkeit“ keine Randerscheinungen mehr. Zwar sei „Bionik nicht per se nachhaltig“, sagt Speck. Aber die meisten bionischen Anwendungen zeichnen sich eben durch geringen Materialverbrauch oder lange Lebensdauer aus, schonen also Umwelt und Ressourcen. „Die Natur baut zum Beispiel immer bei etwa minus 30 bis plus 40 Grad meistens bei einem Bar Druck. Wir bearbeiten Metalle oft bei bis zu 1000 Grad bei 100 Bar. Allein davon kann man lernen, wie man effizienter mit der Energie umgeht“, sagt Speck.

 

Als erster Bioniker gilt Leonardo da Vinci. Der italienische Allround-Gelehrte schaute sich einst im 15. Jahrhundert die Vögel an und entwarf einen Flugapparat; er sah den Schneckenklee und zeichnete einen Propeller. Auch der Eiffelturm (1889 eröffnet) folgt bionischen Prinzipien und gilt als erstes Ultraleicht-Bauwerk der Geschichte. Konstrukteur Gustave Eiffel erreichte mit relativ wenig Material eine enorm hohe Stabilität – eines der Grundprinzipien bionischen Bauens, denn die Natur hat nichts zu verschenken, nichts über. In den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder bionische Erfindungen wie den berühmten Klettverschluss, den der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral 1951 zum Patent anmeldete, nachdem er auf Spaziergängen mit seinem Hund beobachtet hatte, wie sich die Kletten im Fell des Tieres verfingen.

 

Im Jahr 1958 prägte der amerikanische Arzt Jack Steele den Begriff „Bionik“ als Kunstwort aus „Biologie“ und „Technik“. Bis zum endgültigen Durchbruch dauerte es jedoch noch rund vierzig Jahre, und nun, etwa seit der Jahrtausendwende, ist die Bionik das Zukunftsthema schlechthin. „Ich denke, die größten Innovationen des 21. Jahrhunderts entstehen an der Kreuzung von Biologie und Technik. Eine neue Ära beginnt“, ahnte schon Apple-Gründer und Visionär Steve Jobs. Und er sollte wohl Recht behalten.

 

Und tatsächlich: Heute gibt es kaum einen wissenschaftlichen Bereich, bei dem Bionik keine Rolle spielt. Sei es in der Medizin, wo das Cochlea-Implantat den natürlichen Hörvorgang nachbildet oder wo im Februar 2015 die Geschichte eines blinden Amerikaners rührte, der nach zehn Jahren durch ein bionisches Retina-Implantat seine Frau wieder sehen kann. Sei es in der Architektur, sowohl in der Statik, wo man sich von Bäumen und Knochen vieles abschauen kann, als auch bei den Baumaterialien. Sei es im Maschinenwesen mit der Robotik und der Produktionstechnik. Und das sind noch längst nicht alle. Eine Grundlage des bionischen Fortschritts ist es also, die verschiedenen Wissenschaftszweige gut zu vernetzen. Was zumindest in Deutschland schon gut funktioniert, etwa in interdisziplinären Zusammenschlüssen wie dem Bionik-Kompetenznetz Biokon.

 

Dazu kommt, dass bisher von den zehn bis 15 Millionen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten auf der Erde bestenfalls 0,1 Prozent überhaupt auf ihr bionisches Potenzial geprüft wurden. Vor allem die Tiefsee, aber auch der Regenwald, wo auf einem einzigen Baum bis zu 1000 verschiedene Arten gefunden werden können, sind dabei weitgehend unerforscht. So wird quasi täglich irgendwo auf der Welt in irgendeinem Labor eine Entdeckung gemacht, die schon in zehn Jahren die Welt revolutionieren könnte. Die Natur wird aber nicht einfach kopiert, sondern ihre Methoden werden abstrahiert‘ übertragen und angewendet, um technische Fragestellungen zu lösen.

 

Der Weg zum Produkt aber ist lang. Denn so gut und ausgereift die Ideen der Natur auch sind, so mühsam ist es für die Forscher, diese auch an die Industrie und damit in Großserie zu bringen. Meistens geht nur etwas voran, wenn Konzerne durch Gesetze und neue Normen zu Veränderungen gezwungen werden. Sonst ist es oftmals billiger und sicherer, an den alten Methoden kleben zu bleiben.

 

Man unterscheidet in der Bionik zwei Vorgehensweisen. Beim Bottom-Up-Prozess entdecken Forscher einen Lösungsansatz der Natur, den sie dann der Industrie zur Verfügung stellen. Die andere Form ist der Top-Down-Prozess, bei dem die Forscher für ein existierendes und mithin erfolgreiches Produkt nach bionischen Verbesserungen suchen. Während ein Bottom-Up-Prozess an die sieben Jahre dauert, braucht es nur knapp ein Jahr, wenn die Industrie selbst nachfragt und sich Verbesserungen wünscht.

 

Deshalb müssen Bioniker ihre Projekte sichtbar machen. Besonders geeignet sind Bauwerke wie der „One Ocean“-Pavillon auf der Weltausstellung Expo 2012 in Südkorea. Dessen Fassade verfügt über bewegliche Lamellen, die sich ohne Gelenke oder Scharniere öffnen und schließen lassen. Das Prinzip schaute man sich bei der südafrikanischen Paradiesvogelblume ab. Eine architektonische Revolution, die die Expo-Besucher beeindruckte. Solche Schaufenster sind jedoch selten und so verschwinden noch zu viele interessante Forschungsergebnis in Regalen und Aktenordern.

 

Nur wenige Firmen tun sich so hervor, wie das Esslinger Automatisierungsunternehmen Festo. So entwickelte der schwäbische Mittelständler in den letzten Jahren eine ganze Reihe künstlicher Tiere und sorgte damit für großes Aufsehen: den Fisch „Airacuda“, die Qualle „AirJelly“, die Libelle „BionicOpter“ und zuletzt ein Känguru. Festo zielt dabei aber weniger auf konkrete Produkte, sondern will seine Konstrukteure auf unkonventionelle Ideen bringen. Immerhin machen sie mit den Tieren einen wichtigen Teilbereich der Bionik greifbar: Die Robotik. Also das Erschaffen von künstlichen „Lebewesen“, die beweglich sind und smart genug, dass sie dem Menschen Arbeit abnehmen können oder auch dorthin gehen, wo es weh tut.

 

Aber auch bei Festo zeigt sich das wesentliche Problem zwischen faszinierender Forschung und der pragmatischen Umsetzung im Alltag. Denn nur wenige ihrer bionischen Entdeckungen (wie etwa ein Greifarm, der einem Elefantenrüssel nachempfunden ist), sind als konkrete Produkte auf dem Markt erhältlich. Das aber könnte sich bald ändern. Denn sowohl im Automobilwie auch im Flugzeugbau wird bionischer Leichtbau künftig unabdingbar werden. Bei Passagierjets sind die nach oben gebogenen Tragflächenenden, die sogenannten Winglets, ja schon seit Jahren sichtbares Zeichen praktisch umgesetzter Bionik. Ein energiesparendes Prinzip, das der Albatros und der Steinadler auf ihren Langstreckenflügen nutzen. Die gespreizten Flügelenden verringern die Luftverwirbelungen. Aber das ist nur der Anfang. Airbus präsentierte jüngst sein „Concept Plane“, dessen Kabinenstruktur dem Skelett von Vögeln gleicht. Deren Knochen sind einerseits hohl, andererseits so geschickt kombiniert, dass mit einem Minimum an Materialeinsatz ein Maximum an Stabilität erreicht wird.

 

Bioniker Thomas Speck ist sich sicher, dass auch die Automobilindustrie bald auf den Leichtbau, vereinfachte Strukturen oder „schlaue“ Materialien setzen wird. Und dass so die Natur immer mehr Einzug hält. Im Design ist sie ohnehin längst fester Bestandteil. „Man kann immer von der Natur lernen, weil sie hervorragend zusammenarbeitet, um die besten Lösungen hervorzubringen“, sagt Filippo Perini, der Leiter des Centro Stile Lamborghini. Überhaupt sei sie „der beste Designer überhaupt“, sagt er augenzwinkernd, „was jedoch kein Wunder ist, sie feilt ja schon seit Milliarden Jahren an den Details“. Für seine Arbeit an den Modellen von Lamborghini hat sich der Designer einiges abgeguckt. So habe der Aventador den Körper eines Insekts und bei der Frontpartie inspirierten ihn verschmelzende Kristalle. Während der Entwicklung des Asterion dachte er eher an die kühle Geschmeidigkeit von Haien und Delfinen. Ein Lack mit Glitzereffekt ist Schmetterlingsflügeln und den Schuppen der Fische nachempfunden. Schon seit er ein Kind war, ließ sich Perini von der Vielfalt und den „faszinierenden Proportionen“ der Natur beeinflussen. „Das hilft mir dabei, die Autos sinnlicher zu gestalten.“

 

Am schnellsten geht es mit den bionischen Ideen aber immer dann, wenn Ökologie und Ökonomie zusammenfinden. Forscher der Hochschule Bremen entwickelten vor einigen Jahren eine Unterwasserbeschichtung, die der Haut von Haien nachempfunden ist. Ein Schiff, das damit lackiert ist, wird zu 70 Prozent weniger von Muscheln und Algen besetzt. Und spart somit Treibstoff ein, weil es haigleich durchs Wasser gleitet. Die Reederei freut es. Und die Natur auch.