Mai 2014 / GALA MEN / Interview

„Hut ab vor mir!“

Bei der WM in Südafrika gelang Thomas Müller der Durchbruch, die WM in Brasilien soll ihn nun zum Triumphator machen. Der Münchner über die eigene Klasse, die Liebe zur Heimat und die Vergänglichkeit von Erfolg.

Der Montag nach einem Bundesliga-Wochenende. Unser Treffpunkt mit Thomas Müller, 24, ist ein Hotel in der Nähe des Münchner Marienplatzes. Ein Stück Heimat für den Angreifer, der ein wandelnder Anachronismus im modernen Fußball ist: ein echter Bayer beim FC Bayern. Im Zuge totaler Globalisierung und härtestem Sozialdarwinismus auf dem grünen Rasen sind regionale Helden in den Clubs zur Rarität geworden. Siegeswille, der sich auch über die eigene Herkunft nährt, gibt es nicht mehr. Ausnahme: Müller.

 

Er wirkt gelassen und aufgeräumt, schließlich hat sein Verein am Vortag gewonnen und er ein Tor erzielt. Aber auch wenn das nicht so gewesen wäre, ein Müller ist immer charmant, höflich, vergnügt. Seine Devise ist, nicht immer alles so ernst zu nehmen. Und noch etwas unterscheidet ihn von den allzu glattgemanagten Elitekickern: Müller traut sich, den Mund aufzumachen.

 

Thomas Müller, wird die Nationalmannschaft in Brasilien Weltmeister?

 

Die Erwartung ist da. Ich würde sie auch an die Mannschaft haben, weil wir natürlich immer wieder betonen, dass wir gute Spieler haben. Wir fahren nach Brasilien, um den Titel zu holen.

 

Sind die Erwartungen überzogen?

 

Dieser Erfolgsdruck ist nicht schön, aber wir haben ihn uns selbst erarbeitet. Ich hoffe nur, dass sich im Sommer wieder so eine Stimmung im Land entwickelt. Da sind die Fans gefordert, aber auch die Medien. Wenn wir merken, dass die Fans daheim hinter uns stehen, bringt uns das enorm viel. Allerdings muss auch jeder einsehen, dass man keinen WM-Titel garantieren kann, schließlich sind auch andere Mannschaften sehr gut besetzt. Wir haben sicherlich das Potenzial, aber mit Potenzial hat noch keiner was gewonnen.

 

Was fehlt der deutschen Nationalmannschaft, was der FC Bayern schon hat?

 

Wir haben beim FC Bayern eine große Souveränität entwickelt. Das ist aber eine ganz andere Situation, denn bei der Nationalmannschaft müssen wir immer in unterschiedlichen Formationen spielen. Und es gibt keinen täglichen Trainingsrhythmus, der für die Spielweise des FC Bayern unabdingbar ist. Auch deshalb ist es entscheidend, dass wir vor der Weltmeisterschaft ein gutes Trainingslager absolvieren und uns gut vorbereiten. Ich bin optimistisch, dass das klappt.

 

Was macht Pep Guardiola als Trainer so besonders?

 

Er ordnet einfach alles dem Erfolg unter, zerpflückt das Spiel in seine Einzelteile und versucht, für jeden Gegner und jeden Spieler Lösungen zu finden. Ein Trainer hat ja keinen Einfluss darauf, ob einer mit links gut schießen kann oder nicht. Aber er kann entscheiden, wo er welchen Spieler wann einsetzt, wie das Zusammenspiel zu funktionieren hat, und er kann eine Strategie wählen. In all diesen Dingen ist Guardiola ein Perfektionist. Man sieht auch oft, wie wir im Spiel schon nach zehn Minuten die Positionen wechseln, weil er eine Schwachstelle entdeckt hat. Oder etwas, was man anders machen könnte. In dieser Form habe ich das noch nie erlebt.

 

Und so wird ein Thomas Müller plötzlich zum Mittelstürmer …

 

Zum Beispiel. Aber das ist bei mir nichts Neues, ich war noch nie auf eine Position festgelegt. Ich habe offensiv alles gespielt und bin in dem Bereich gefährlich. Da ist es egal, wo ich eingesetzt werde.

 

Was ist neben Trainer Guardiola das Erfolgsgeheimnis des FC Bayern München in den vergangenen Jahren?

 

Wir haben extrem viel Qualität, egal wer auf dem Platz steht. Im Endeffekt macht das den
Unterschied. Und wir wissen, dass wir uns immer Torchancen herausspielen können. Selbst in  Begegnungen, in denen es mit der Motivation vermeintlich schwierig ist, schaffen wir es trotzdem, guten Fußball zu zeigen. Einfach weil wir unglaublichen Spaß am Spielen haben.

 

Soll heißen, die Bundesliga bleibt auch in den nächsten Jahren langweilig?

 

Ich kann diese Angst verstehen. Es liegt zwar immer im Auge des Betrachters, was er als langweilig empfindet, aber natürlich sind wir in den letzten beiden Jahren schon sehr dominant aufgetreten. Das kann jedoch auch wieder anders werden. Wir werden uns spielerisch sicher nicht verschlechtern, aber eine Bilanz wie in der abgelaufenen Saison ist kaum zu wiederholen.

 

Sie stammen aus Pähl am Ammersee, nur wenige Kilometer von München entfernt. Ist Heimat für Sie wichtig?

 

Nicht übermäßig wichtig, aber in meinem Fall ein willkommener Zufall, dass ich es sportlich beim FC Bayern München geschafft habe. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich auch woanders mein Glück versucht. Aber es ist schön, dass der aktuell beste Fußballclub der Welt gerade mal 50 Kilometer von meinem Heimatort entfernt ist und schon immer der Verein meines Herzens war. Das passt einfach. Und derzeit will ich auch nichts daran ändern.

 

Was mögen Sie an Ihrer Heimat?

 

Wenn ich an diese Gegend denke, fällt mir immer ein: ein schöner sonniger Tag, Bergblick, der See in Reichweite, tolle Natur. Das Gleiche gilt für München. Die Voraussetzungen, hier ein schönes Leben zu haben, sind einfach sehr gut. Ich kann schlecht einschätzen, wie wir Bayern auf andere wirken, aber ich fühle mich sehr wohl hier.

 

Können Sie sich überhaupt vorstellen, jemals woanders zu spielen als beim FC Bayern München?

 

Ich bin nicht so blauäugig, zu sagen, dass es nie einen Wechsel geben wird. Das Fußballgeschäft ist so schnelllebig und unvorhersehbar, da kann viel passieren. Der FC Bayern ist aktuell die Nummer eins in der Welt, da geht man ungern weg. Aber ich bin sicher keiner, der den Fans irgendwas verspricht und dann klammheimlich anderswo unterschreibt.

 

Sind Sie konservativ?

 

Ich bin mit Traditionen aufgewachsen, in einer kleinen Gemeinde mit Dorffesten und Vereinen, wo noch nach dem kirchlichen Kalender gelebt wird. Und ich schätze Traditionen wie den Leonhardiritt. (In dieser Prozession bitten katholische Pferdefreunde wie Thomas Müller um die Gnade von St. Leonhard, dem Schutzheiligen der Nutztiere; Anm. d. Red.) Aber da ich schon früh in meiner Jugend nach München gefahren bin, um beim FC Bayern zu trainieren, war ich immer offen für Neues: Und ich bin froh, dass ich mehr kennengelernt habe als nur das Biotop eines Dorfes, in dem sich jeder kennt.

 

Sie sind schon als Elfjähriger fast täglich mit dem Zug nach München gependelt. Ein ganz schöner Aufwand.

 

Aus heutiger Sicht muss ich sagen: Hut ab vor mir, wie ich das durchgezogen habe! Damals hat es mich nicht gestört, da war das ein Teil meines Lebens. Schule, kurz zu Hause, dann ab ins Training. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht. Diesen Aufwand betreiben sehr viele, die es dann aber nicht schaffen.

 

Ist das ein Argument, das man jedem entgegenhalten könnte, der sagt: Fußballprofis verdienen zu viel?

 

Das ist in jedem Geschäft so, dass man nicht immer erkennt, was einer in den Erfolg investieren muss und welche Opfer er bringt. Der Fußballprofi verdient ja nur deshalb so viel, weil so viele Leute den Fußball als Unterhaltung konsumieren. Wir legen die Gehälter ja nicht fest, die entwickeln sich so – und da sagt man doch nicht Nein.

 

Es heißt, Sie seien normal und natürlich geblieben. Wie schafft man das, gerade beim FC Bayern?

 

Man muss die Welt, in der man sich bewegt, und das ganze Geschäft immer gut reflektieren. Was kann ich für voll nehmen und was nicht? Wo muss ich mir meine eigene Meinung bilden? Die Fußballwelt kann einen blenden, ganz klar, und nicht jeder, der nach einem Sieg dein Freund ist, ist das auch nach einer Niederlage. Ich komme damit zurecht, vielleicht weil meine Eltern einen guten Einfluss auf mich hatten. Und ich habe mal den Tipp bekommen, ich solle einfach so sein, wie ich bin. Damit bin ich immer gut gefahren.

 

Haben Sie deshalb nach Ihren zwei Toren im Achtelfinale der WM 2010 gegen England mal eben Ihre Oma gegrüßt?

 

Das war mein bester Schachzug. Nein, im Ernst, es war natürlich nicht geplant, aber rückblickend kann ich sagen, dass ich es nicht besser hätte machen können. Da ist das Adrenalin durch die Decke gegangen, und weil ich ja ohnehin den Mund nicht zukriege, ist das einfach rausgeblubbert. Ich versuche immer, das Leben locker zu nehmen. Was nicht heißt, dass ich mich nicht auch mit ernsthaften Themen befassen oder unangenehme Gespräche führen kann. Ich bin auch sehr direkt, denn mit klaren Ansagen kann ich besser umgehen als mit Wischiwaschi.

 

Sie wirken sehr abgeklärt für Ihr Alter …

 

Grundsätzlich bin ich mir über die Vergänglichkeit nicht nur des Fußballgeschäfts, sondern des Lebens an sich bewusst – und nehme deshalb alles nicht ganz so ernst. Wobei ich natürlich das Glück habe, in Deutschland leben zu dürfen. Denn wenn man nichts zu essen hat, kommt man mit Lockerheit auch nicht mehr weit.

 

Hat Ihre Lockerheit auch Grenzen?

 

Auf jeden Fall. Wenn ich mit meiner Familie beim Essen bin, und da kommt ein Fan, packt seinen Rucksack auf den Tisch und sucht nach Zettel und Stift für ein Autogramm, dann geht das einfach zu weit. So was gibt’s ab und zu. Ich werde von Jahr zu Jahr konsequenter, wenn es um meine Privatsphäre geht. Früher habe ich mich noch gefreut, wenn ein Fan an der Haustür geklingelt hat, und sogar gefragt, was ich sonst noch für ihn tun kann.

 

So mancher, der wie Sie über Nacht zum Star wurde, ist übergeschnappt.

 

Es ging überwältigend schnell. Vor allem mit der Weltmeisterschaft 2010 gleich nach meinem ersten Profijahr, in dem ich auch noch Torschützenkönig wurde. Allerdings sind auch Druck und Anspruch enorm gestiegen, deshalb konnte ich mich nie auf den Leistungen ausruhen. Wenn man es im Fußballgeschäft nicht mehr bringt, wird man verschwinden. Dessen muss man sich bewusst sein. Denn jeder ist zu ersetzen. Jeder. Das ist die knallharte Wahrheit.