April 2016 / ADAC Reisemagazin / Interview

Dame schlägt alle

Sie war die beste Schachspielerin aller Zeiten. Mit ihrem „Killerblick“ zerlegte Judit Polgár reihenweise ihre Gegner. Ein Gespräch über Genialität und den Plan des Lebens

Es ist einer der Tage, die begreifbar machen, warum Judit Polgár Budapest als „eine der schönsten Städte der Welt“ sieht. Blauer Himmel, kühle Morgenluft, und Sonnenschein beleuchtet die Szene. Sie kann es beurteilen, reiste sie im Laufe ihrer Karriere als beste Schachspielerin aller Zeiten doch schon in mehr als 60 Länder. Natürlich ist sie nicht gänzlich objektiv, denn sie hat nie woanders gelebt. Geboren und aufgewachsen in Pest, zog sie vor 15 Jahren auf die andere Seite der Donau. „Diese Panoramablicke, Cafés, Kunst, gutes Essen und junge Leute aus aller Welt. Es gibt keinen besseren Ort“, sagt sie. In ihrem Büro der Judit Polgár Chess Foundation, das in einem eher unscheinbaren Haus liegt, inmitten all der Villen zwischen dem Burgpalast und dem Gellértberg, muss man nicht fragen, was ihr Leben bestimmt. Die Bilder zeigen Schach, und eine Vitrine an der Wand versammelt zahlreiche Schachfiguren aus verschiedenen Jahrhunderten, die von Geschichte und Vielfalt dieses weltbewegenden Spiels erzählen.

 

 

Frau Polgár, warum fasziniert Schach seit Jahrtausenden die Menschheit?

 

Schach ist sehr einfach und gleichzeitig sehr komplex. Es ist eine Wissenschaft, denn man muss viel analysieren, um sich zu verbessern. Es ist ein mentaler Kampf. Es wirkt ruhig und friedlich, aber es kann der blutigste Sport sein, den man sich vorstellen kann.

 

Schach ist ein blutiger Sport?

 

Ja, denn es fordert so viele Nerven und Konzentration. Und man bekommt das Feedback sofort: Entweder hast du gewonnen oder verloren. Es gibt keine Ausreden. Wenn du verloren hast, dann hast du verloren. Und zwar nicht, weil du Pech hattest, sondern weil du schlechter warst als dein Gegner.

 

Bisher klingt es eher grausam. Wo ist das Warme und Optimistische?

 

Schach vereint die Menschen. Es wird quer durch alle Stände und Schichten gespielt, bei Herrschern genauso wie in armen Familien. Man braucht ja nicht viel. In vielen Kulturen war es immer ein Teil des Familienlebens. Der Opa spielte mit dem Enkel. Und dann ist da das künstlerische Element …

 

Schach ist Kunst?

 

Oh ja. Als ich klein war, zeigte mir mein Vater sehr schöne klassische Partien. Es war faszinierend zu beobachten, wie Figuren geopfert wurden, um dem Ziel näher zu kommen. Ich mag diese Schönheit der Kombinationen, dieses strategische Opfern, originelle Ideen, unerwartete Züge. Es kam vor, dass ich gut vorbereitet zu einem Wettkampf ging, aber mitten im Spiel eine Idee hatte und dachte: „Wow, das ist genial, aber es wird nicht funktionieren.“ Und ich es dennoch versuchen musste. Das ist für mich Kunst. Es ist wie ein Feuerwerk.

 

Was kann man beim Schach lernen?

 

Sei geduldig, bis der andere seinen Zug gemacht hat. Denk logisch, was immer hilft, Probleme zu lösen. Analysiere deine Fehler, um besser zu werden. Entwickle neue Ideen, und versuche, den Gegner zu überraschen. Sei kreativ und kombiniere. Ich begegne immer wieder Professoren, Ärzten oder auch Geschäftsleuten, die mir bestätigen, wie sie diese Art des Denkens nutzen: logisch, vorausplanend, die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen tragend.

 

Im Jahr 1989 sagten Sie, dass Sie keine Interviews mögen, weil die Fragen immer die gleichen seien. Damals schon?

 

Ich war erst zwölf, reiste dauernd ins Ausland und musste viele Interviews geben. Dann kamen wirklich immer dieselben Fragen. Ich wurde in den USA vor einem Turnier mal von einem Journalisten gefragt: „Was ist Schach?“ Den habe ich dann an einen amerikanischen Spieler, der zufällig neben mir stand, verwiesen. Sollte der sich damit herumschlagen.

 

Träumen Sie manchmal von Schach?

 

Nein. Und das finde ich sehr merkwürdig. Nur einmal, in der Vorbereitung auf eine WM, da habe ich einen guten Zug geträumt. Den habe ich tatsächlich benutzt – und er hat funktioniert.

 

Warum gibt es so wenige Frauen in der Weltspitze des Schachs?

 

Es stimmt, nur etwa fünf Prozent aller registrierten Schachspieler sind Frauen. Mit Intelligenz hat das nichts zu tun. Die Gesellschaft und die Eltern setzen den Kindern Limits, nicht deren Fähigkeiten. Und das lässt sich schwer ändern. Sicher, Männer und Frauen denken unterschiedlich und spielen unterschiedlich Schach. Aber es gibt ja nicht nur einen Weg zum Ziel.

 

Wie kommt es zu den Limits?

 

Bis zum Alter von zwölf Jahren spielen etwa gleich viele Jungen und Mädchen in Clubs Schach. Danach entwickeln Mädchen andere Interessen und sind nicht so wettbewerbsorientiert. Bei einem Jungen heißt es: „Mach weiter, kämpfe!“ Mädchen werden zu anderen Dingen ermuntert, etwa zu einer vernünftigen Ausbildung. Bei mir war das anders. Meine Eltern haben mir und meinen Schwestern immer gesagt: Ihr könnt die gleichen Ergebnisse erreichen wie die Jungs.

 

Ihr Vater László las an die 400 Biografien kluger Menschen, von Sokrates bis Einstein. Als Pädagoge hatte er den Plan, seine Kinder systematisch zu Genies zu erziehen.

 

Ja, er analysierte all diese großen Geister und erkannte, dass sie alle sehr jung begonnen hatten. Je jünger man beim Lernen ist, desto natürlicher ist es in deinem Denken und Handeln verankert. Als mein Vater meine Mutter traf, erzählte er ihr von seinen Ideen. Dass er sechs Kinder haben wolle, die er selbst ausbilden und in einem Bereich spezialisieren wolle.

 

Aber ist es nicht etwas gruselig, ein Kind nach Plan zum Genie zu formen?

 

Kinder werden immer beeinflusst, sei es nun bewusst oder unbewusst. Wenn Eltern wissen, was sie wollen, dann kann das auch gut sein. Keiner fragt mich: „Ihr Leben war so anders, war es denn viel besser?“ Nein, es wird immer der negative Aspekt angesprochen. Mein Vater hatte eine Vision. Viele Eltern heute haben kein Ziel.

 

Hatten Sie eine glückliche Kindheit?

 

Das ist eine knifflige Frage. Was ist „glücklich“? Es gibt viele Kinder, meine eingeschlossen, die nicht besonders glücklich darüber sind, dass sie jeden Tag zur Schule gehen müssen. Ich hatte eine glückliche Kindheit, aber sie war einzigartig. Denn in der Zeit, als wir anfingen herumzureisen, da war es absolut unüblich für uns Ungarn, ins Ausland zu fahren. Dadurch entwickelte ich mich zu einer aufgeschlossenen Persönlichkeit, durfte als Weltbürgerin aufwachsen. Von anderen Kindern wurde ich schräg angeschaut, weil ich zu Hause unterrichtet wurde. Ich spielte Schach, musste mich messen – und gewinnen. Das gelang. Wenn die Dinge gut laufen, warum soll man es anders haben wollen?

 

Gab es überhaupt „normale“ Freunde?

 

Nein, das nicht. Nur meine Schwestern.

 

Wie finden Sie den Plan Ihres Vaters heute?

 

Ab und zu denke ich darüber nach, wie es funktionierte und warum. Das Gehirn eines Kindes ist ja wie ein Schwamm, es saugt Wissen und Fähigkeiten förmlich auf. Aber wenn man nicht daran arbeitet, vergisst es auch schnell. Deshalb hat man die Verantwortung, sein Kind zu begleiten. Und das ist sehr schwer für die Eltern, denn es gibt immer Krisen, man ist viel allein, wird kritisiert. Da muss man schon sehr unbeirrt sein und viel opfern. Bei meinen Eltern funktionierte es, sie gaben ihren Job auf und kümmerten sich ausschließlich um mich und meine Schwestern. Es war die Herausforderung ihres Lebens.

 

Sprechen Sie mit Ihrem Vater manchmal über Ihre Kindheit?

 

Von Zeit zu Zeit. Vor allem, als ich meine Kinder bekommen habe. Jetzt sehe ich, wie schwer es ist, alles richtig zu machen. Er ist nicht besonders glücklich, dass sie in eine normale Schule gehen, er hätte gern, dass ich sie nach seinen Ideen erzöge. Aber die Zeiten haben sich geändert. Als wir mit dem Schach begannen, da gab es keine Computer, kein Internet, und wir waren sehr arm und lebten im Sozialismus. Es ist interessant, dass der Plan funktionierte, meine Schwestern und ich haben sehr viel erreicht. Und wir haben eines gelernt: Wer fleißig ist, muss nicht zwingend talentiert sein. Arbeit schlägt Talent.

 

Muss ein Kind ein Genie werden?

 

Nur weil ein Kind lernt, meinen manche, es leide. Aber wenn es etwas lernt, für das es sich interessiert, und das in einer spielerischen Art, dann ist es keine Qual. Und wenn eine Sechsjährige den eigenen Vater im Schach besiegt, gibt ihr das enorm Selbstvertrauen.

 

War Ihnen klar, dass Sie schlauer sind als andere Kinder?

 

Ich war nicht schlauer, ich spielte nur besser Schach. Durch mein logisches Denken war ich sicher reifer als andere meines Alters.

 

Als Sie elf Jahre alt waren, saßen Sie mit Ihrem Spielzeuglöwen am Schachbrett. Mit einem „Killerblick“, wie die Zeitungen schrieben. Und Sie sagten nach Siegen manchmal ungerührt über Ihren Gegner: „Ich habe ihn vernichtet.“

 

Ich hatte das Image, sehr aggressiv und furchtlos zu sein. Und ich habe sehr gerissen gespielt. Wenige Züge, immer auf Angriff, da hatten die Gegner keine Chance. Und natürlich waren Erwachsene nicht besonders glücklich, wenn sie gegen mich spielen mussten. Sie hatten ja nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Gegen ein kleines Mädchen, wie peinlich. Darüber spotteten dann Kollegen, Freunde und die Öffentlichkeit. Der erste Großmeister, den ich schlug, der stand auf und schlug seinen Kopf gegen die Wand.

 

Im Schach waren Sie perfekt. Warum haben Sie schon mit 38 Jahren aufgehört?

 

Es war sicher eine schwere Entscheidung, nach 33 Jahren aufzuhören. Aber ich glaube, dass ich abseits des Bretts mehr fürs Schach tun kann.

 

Sie meinen Ihre Idee, Schach als Schulfach zu etablieren.

 

Darauf habe ich lang hingearbeitet, und 2013 wurde es schließlich in Ungarn in den Lehrplan aufgenommen. Die Kinder lernen mithilfe von Schach, in Verbindungen zu denken. Denn wenn Dinge untereinander verbunden sind, dann fällt es leichter, sie zu lernen. Wir sind nun schon im dritten Jahr, beteiligt sind 500 Lehrer an 170 Schulen, und es gibt 13 Referenzschulen.

 

Spielen Sie manchmal noch aus Spaß?

 

Nein, nie. Wenn du mal an der Spitze warst, ist es schwer zu akzeptieren, dass dein Niveau sinkt. Ohne Training fehlt das Gefühl für die Feinheiten des Spiels. Deshalb lasse ich es lieber ganz.

 

Nicht mal zu Hause gegen Ihren Mann?

 

Als wir uns kennenlernten, haben wir mal zwei oder drei Partien gespielt. Ich habe so locker gewonnen, da wollte er nicht mehr. Ich glaube, es hat an seinem männlichen Ego gekratzt.