Dezember 2022 / GALORE / Interview

„Selbstgerechtigkeit ist etwas wahnsinnig Unappetitliches.“

04. November 2022, Kassel. Es ist Freitagmorgen um 8 Uhr und genau danach sieht Mark Waschke auch aus: zerknittertes T-Shirt, zerknitterte Frisur, zerknittertes Gesicht. Aber davon darf man sich nicht täuschen lassen, denn der Schauspieler ist unglaublich präsent, hellwach und mitunter vulkanös. Obwohl das lahme WLAN in seinem pastellfarbenen Kasseler Hotelzimmer immer wieder Probleme bereitet, gibt Waschke eine fulminante Interview-Performance. Er steht auf, setzt sich hin, wird laut, wird leise, steht auf wieder auf, läuft durch den Raum, dreht sich um, ballt die Faust. Gerade dreht er in der Nähe von Kassel, probt aber ebenfalls am kleinen Londoner Theater „Donmar Warehouse“. Auch wenn er vor allem durch seine Fernsehrollen beaknnt wurde, ist das Theater für Mark Waschke mehr als nur ein zweites Standbein.

Mark Waschke, sind Sie gern allein?

Ja, durchaus. Allein sein heißt auch, sich selbst aushalten zu können. Sei es in der Stille, der Einsamkeit oder im absoluten Treiben, im Berghain auf der Tanzfläche oder auf einer Straßenkreuzung in Tokio. Ich halte ich mich da gern an die spirituellen Meister: Schau auf dich, in dich, nimm deinen Atem wahr, die Welt.

Konnten Sie das schon immer: sich selbst gut aushalten?

Früher nicht, inzwischen geht es ganz gut, manchmal gehe ich mit mir selbst ein Bier trinken. Das macht man viel zu selten, dass man sich selbst mal richtig zuhört und fragt: Was brauch ich denn eigentlich gerade? Dafür sind Stille und das Alleinsein ganz hilfreich.

Demnächst läuft die Tatort-Folge „Das Opfer“, in der Ihre Figur Robert Karow ihren ersten und vorerst auch einzigen Einsatz im Alleingang hat. Wie war der Dreh für Sie ohne Meret Becker oder Ihre neue Ermittler-Kollegin Corinna Harfouch an der Seite?

Es war ein ganz besonderer Ritt und eine enorme körperliche Erfahrung. Denn zum einen erlebt Karow von Schlägen bis hin zur Verstümmelung fast alle körperlichen Extreme. Und dann ist eben seine Kollegin nicht mehr da, so ist er völlig auf sich zurückgeworfen, mit sich und der Welt allein. Sich darin neu zurechtzufinden, das war sowohl für Karow als auch für mich als Darsteller eine Herausforderung. So ein Dreh hat nicht nur für die fiktive Figur, sondern auch für den Schauspieler etwas reinigend Kathartisches – und ist auf eine schöne Art bewegend.

Bedeutet kathartisch, dass Sie etwas gelernt haben?

Nee, das nicht. Gelernt hieße ja, dass man etwas verstanden hätte, was man vorher nicht verstanden hat. Katharsis oder auch kathartische Erschütterung bedeutet für mich, dass ich anders auf die Welt schaue als vorher. Ich wurde quasi einmal psychophysisch durchgeschüttelt. Das sorgt aber nicht unbedingt für einen klaren Blick. Es ist eher so, dass in mir Kanäle aufgegangen sind, die vorher zu oder die noch nie spürbar waren. So, als würde man seine Wurzeln in eine neue Richtung ausstrecken. Man wird angenehm erschüttert.

Können Sie diese Erschütterung in Worte fassen?

Also, bei Robert Karow gab es ja einige Bereiche, in die er nie hineinschauen wollte: seine Jugend, seine Sexualität, das Verhältnis zu seinem Vater. Das sind alles Dinge, die mir durchaus selbst auch nahe sind, und ich ahnte, dass ich selbst da bisher auch nicht so genau hinsehen wollte. Aber genau bei den Dingen, mit denen man sich nicht auseinandersetzen will, ist die Kacke am Dampfen, oft schon seit Jahrzehnten. Denn warum sollte man da genauer hinschauen? Man kommt auch so ganz gut durchs Leben. Man entwickelt sogar Energien und Mechanismen, um eben nicht hinschauen zu müssen. Bei vielen macht diese Vermeidungsstrategie einen Teil der Persönlichkeit aus. Die Figur Karow ist hochintelligent, aber auch zynisch, wobei er Menschen zwar nicht verachtet, aber auch keine Geduld mit ihnen hat. Weil er sich nicht mit dem auseinandersetzen will, was ihm wehtut. Weil er sich somit unsicher fühlt, ungeschützt. Und niemand mag sich unsicher fühlen

Und das gilt auch für Mark Waschke?

Naja, auch für mich ist es nach sieben Jahren mit einer Drehpartnerin eine neue Erfahrung, so etwas ganz allein zu machen. Ich hätte im Übrigen auch nicht gedacht, dass ich das so lange mache. Ich dachte eigentlich, nach sechs, sieben Jahren ist es dann auch mal gut und die Figur ist auserzählt, wie man so sagt.

Warum machen Sie weiter?

Zum einen hatte Meret Becker bereits vor drei Jahren verkündet, dass sie aufhören will. Damals wollte ich das auf keinen Fall. Und zum anderen habe ich gemerkt, dass sich in der Figur immer mehr auftut, eben auch diese Erschütterungen. Ich habe gemerkt: Mit dem Karow gibt es noch viel zu erzählen.

Was denn zum Beispiel?

Na, wie verhalten sich Männer in der Großstadt der 20er Jahre dieses Jahrhunderts? Da geht’s um Dinge wie Verletzbarkeit und … es klingt wirklich schrecklich, aber ich sage es jetzt trotzdem: darum, Nähe zuzulassen. Auch Karow würde fragen: „Nähe zulassen, was soll der Scheiß?“ Schließlich ist das ein 80er-Jahre-Vokabular, als man über „Beziehungskisten“ gesprochen hat und dass man „an seinen Problemen arbeiten“ müsse. Das klingt furchtbar, und es ist furchtbar.

Finden Sie?

Oh ja, schon wenn ich darüber rede, merke ich, wie sich bei mir alles zusammenzieht. Es ist nicht sinnlich, nicht sexy. Dennoch ist es erstaunlich, was passiert, wenn man eben nicht gleich wegrennt, nur weil man sich unsicher fühlt, sondern man versucht, es ein bisschen auszuhalten. Auch wenn es Angst macht.

Was passiert dann?

Auf einmal entsteht ein anderes Gefühl von Sicherheit. Man versucht, sich im Unbehaglichen behaglich zu fühlen. In dem, was uns Angst macht, kann gleichzeitig die Chance zur Veränderung, zur Heilung liegen. Karow hat das lange nicht gemacht, und ich auch nicht so oft. Aber vielleicht muss das so sein, vielleicht ist mir das auch jetzt erst möglich. Ich bin dieses Jahr 50 geworden, und merke, dass ich vielen unwichtigen Sachen hinterhergerannt bin, jahrelang, unbewusst. Irgendwann wurde mir klar, worum es mir eigentlich geht: um aufrichtige Beziehungen zu den Menschen, mit denen ich zu tun haben will. Wenn man das so ausspricht, klingt es für manche möglicherweise wie aus einem Wohlfühl-Ratgeber. Aber vielleicht ist das auch nur eine komische Angst von mir: dass ich so klinge wie die Texte einer Frauenzeitschrift im Wartezimmer.

Im neuen Tatort schaut Karow genau hin, denn er erfährt einiges über seine Jugend, seine sexuelle Orientierung, es gibt Rückblenden in die 1980er Jahre. Wie ging es Ihnen damals?

Das Irre an der Pubertät ist ja, dass man sich zum ersten Mal als sexuelles Wesen erfährt. Ich schau in den Spiegel, und ich sehe jemand anders. Und man greift sich an die Nase oder an den Arsch und spürt etwas Fremdes. Es hat mich in meiner Pubertät unglaublich verunsichert, ich tat mich schwer damit, diesen Körper anzunehmen. Ich habe immer gedacht, ich habe so dünne Handgelenke – also hab ich Liegestütze gemacht. Davon bekam ich dann Schmerzen in der Schulter, aber die Handgelenke blieben dünn.

Hat sich diese Unsicherheit mit der Zeit erledigt?

Bei meinem Improabend „Metaware“ hab ich gesagt: ich fand mich früher auch scheiße, aber mittlerweile komm ich ganz gut mit mir klar. Auch körperlich, und auch mit anderen Menschen. Ich kann mich besser aushalten, wenn ich mich und meine Verhaltensmuster nicht als etwas Feststehendes begreife, so nach dem Motto: „Ich bin halt so.“ Sondern, indem ich genau hingucke – dann verhalte ich mich anders.

Was haben Sie durch genaues Hinsehen herausgefunden?

Unter anderem, dass ich bestimmte Verspannungen seit 30 Jahren mit mir herumtrage. In den letzten Jahren habe ich zum Beispiel immer mal reingespürt in diesen Knoten unter meinen Schulterblättern, der geht einfach nicht weg – und irgendwann, als ich nicht mehr drüber gestöhnt hab, kam eine Ahnung, womit der zusammenhängen könnte.

Womit denn?

Möglicherweise mit dem Bedürfnis, mich zu schützen. Da war was in meiner Jugend oder Kindheit, vor dem ich den Kopf einziehen musste, wo ich mich zusammengezogen hab. Damals war das fürs Überleben auch sinnvoll, aber Jahre später zieht das dann immer noch und du kriegst es einfach nicht wegmassiert.

Hat es auch damit zu tun haben, dass Sie sich mit etwa 14 Jahren gefragt haben, ob Sie hetero oder schwul sind?

Ich bin in einer Zeit sozialisiert worden, in der klar war: Da sind Mann und Frau, und die gründen eine Familie, und dann hat man Kinder. So und nicht anders. Schon allein, wie sich bei vielen Leuten die Stimme verändert hat, wenn sie über homosexuelle Menschen gesprochen haben! Wie im Fernsehen Komiker Witze darüber machten. Die Homophobie war tief verwurzelt in der Welt, in der ich aufgewachsen bin.

Wie haben Sie auf diese Welt reagiert?

Ich habe körperlich gespürt: Da passe ich nicht rein, das bin ich nicht. Ich bin anders, und ich will auch anders sein. Damit hast du als verunsicherter Teenager einen unglaublichen Druck. Hat bestimmt auch damit zu tun, dass ich Angst hatte, nicht geliebt zu werden. Wir brauchen bedingungslose Liebe. Wenn du die nicht kriegst, dann tust du alles, um sie zu bekommen.

Zum Beispiel sich verleugnen?

Zum Beispiel, ja. Es gab in der Pubertät vieles, was ich ausleben wollte, was aber weiblich konnotiert war. Ob das Kleidung war oder auch, wie ich mich bewege oder wie ich rede. Manchmal hatte ich Lust, ein Mädchen zu sein. Oder die Kleider meiner Mutter anzuziehen. Obwohl, nein, nicht ihre, die nicht, aber vielleicht andere Kleider, und andere Sachen zu machen als nur die, die ich mich getraut hab. Und es zerreißt dich, etwas zu wollen und zu begehren und es nicht zu leben, weil andere es für „abartig“ halten.

Wann haben Sie sich daraus befreit?

Ich habe zu dieser Zeit mit meiner Familie in der saarländischen Provinz gelebt. Die Schwulenbars in Saarbrücken fand ich ein bisschen deprimierend. Mit queerem Leben bin ich erst später in Berührung gekommen, als ich nach Hamburg und nach Berlin kam.

Vor knapp zwei Jahren waren Sie Teil der Kampagne „Act Out“, bei der sich im Magazin der Süddeutschen Zeitung laut Schlagzeile „185 Schauspieler*innen … als lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nicht-binär und trans*“ outeten. Haben Sie damit etwas für sich geklärt?

Nö, denn da gibt es nichts zu klären, und das finde ich wahnsinnig befreiend. Noch Ende der 80er-Jahre erzählten mir selbst Männer in der Schwulenbewegung, dass es Bisexualität eigentlich nicht gibt, nur schwul oder hetero. Und ich wusste: Schwul bin ich nicht, aber ich bin ganz bestimmt auch nicht einfach nur hetero. Und den Begriff Bisexualität fand ich auch irgendwie unbefriedigend. Als mich dann Freunde gefragt haben, ob ich bei „Act Out“ mitmachen will, habe ich mich nochmal ganz anders und tiefer in mich rein gehört und mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Und dabei festgestellt, dass der Begriff Queerness es auf den Punkt bringt. Ich bin queer.

Warum gingen Sie damit an die Öffentlichkeit?

Für die 185 Menschen, die mitmachten, ging es bei der Kampagne vor allem darum, andere Narrative zu schaffen, andere Geschichten zu erzählen, einen anderen Blick auf die Welt zu zeigen. Ich persönlich bin beruflich nicht diskriminiert worden, weil ich queer bin oder weil ich auch auf Männer stehe. Ich habe trotzdem meine Rollen spielen können. Aber andere konnten das nicht, die sind einfach gar nicht vorgekommen. Das war der eine Grund. Der andere: Ich wusste von vielen Zuschauerreaktionen: Es kann anderen Menschen Mut machen, wenn ein Schauspieler, noch dazu einer, der einen Tatort-Kommissar spielt, sagt: „Schaut her, ich weiß auch nicht genau, wie und was ich bin, aber es liegt definitiv schräg zur herrschenden Norm.“

Zumal Ihre Figur Robert Karow sechs Jahre nach einer sehr expliziten Szene im dritten Fall als der „erste schwule Tatort-Kommissar“ bezeichnet wurde.

Ja, da war einiges los. Kurz nach der Ausstrahlung rief ganz aufgeregt jemand von der ARD an: „Wir müssen uns erklären, wir müssen eine Pressemeldung rausgeben, die fragen alle: ‚Ist er denn nun schwul? Oder bisexuell? Und was ist mit Mark Waschke?‘“ Und ich hab nachgehakt: „Wer will das denn bitteschön wissen?“ „Ja, die BZ und die Bild und…“ Also genau die Medien, die immer schon gegen andere Lebensweisen gewettert haben. Ich hab gesagt: „Hier wird nichts erklärt. Einen einzigen Satz könnt ihr rausgegeben: „Robert Karow redet nicht über seine Sexualität – und Mark Waschke hält es genauso.“ Das hat dann aber keiner von denen zitiert.

Als Sie aufwuchsen, waren die Tatort-Kommissare ganz sicher nicht als schwule oder queere Personen angelegt.

Natürlich nicht. Als ich 14 war, gab es Schimanski. Der war toll und cool und ein Vorbild, heute würde man sagen: ein Role-Model – auch für mich. Ich habe damals auch so eine Jacke getragen wie er. Aber: Die Figur Schimanski hat sich nicht in den Arsch ficken lassen, trug keine Stilettos und hat sich auch nicht die Lippen geschminkt… obwohl… eigentlich weiß man das ja nicht. Aber wenn es so war, hat er es niemandem erzählt.

Sie ernähren sich vegan, besitzen kein Auto.

Bei der Ernährung ist es wie mit der Sexualität: Es ist furchtbar, für alles Kategorien zu haben. Sagen wir so: Ich esse kein Fleisch, mag einfach keine tierischen Produkte. Aber ab und an, wenn ich beispielsweise in Portugal auf einen ganz besonderen Fisch stoße, und ich weiß genau, wo der herkommt, dann beiß ich da rein. Es ist einfach nicht mehr nötig, Fleisch zu essen. Ich will es auch nicht.

Sie sagen, dass Sie niemanden zur veganen Ernährung bekehren wollen. Aber warum eigentlich nicht? Was ist so falsch daran, andere vom Richtigen überzeugen zu wollen?

In manchen Kreisen ist „vegan“ ja sogar ein Schimpfwort. „Jetzt kommen sie mit ihren veganen Würsten daher.“ Nein, kommen wir nicht, sondern ihr kommt mit eurem mit Medizin vollgepumpten toten Fleisch daher. Ich möchte so einem Fleischesser manchmal ins Gesicht brüllen: „Hör auf, dich über mich lustig zu machen! Geh doch mal ins Schlachthaus und bleib dort acht Stunden! Schau dir an, wie Leute diese shitty Jobs machen müssen, den ganzen Tag Schweine und Kühe umbringen, aufreißen, in den Eingeweiden rumwühlen und mit einer Motorsäge Fleischstücke abtrennen, die mit Antibiotika vollgepumpt sind! Von Tieren, die nie Tageslicht gesehen haben, und deren Aufzucht zehn Mal mehr Fläche verbraucht als der Tofu, den ich mir hier brate, du Arschloch!“ Ich muss aufhören zu monologisieren, aber ich merke, da ist durchaus ein Erregungspotenzial. (lacht) Ich habe letztens YouTube-Videos einer radikalen Veganerin gesehen. Die macht das, die schreit die Leute auf der Straße an – und das ist wirklich schockierend für diese Menschen. Ich denke, für einige ist es erhellend, denn auch das kann ja eine kathartische Wucht haben, mal richtig angeschrien zu werden. Aber für die meisten gilt: Wenn mir jemand so kommt, werde ich erst recht nicht zum Veganer, sondern schütze mich und mein Verhalten. Niemand will missioniert werden, man will etwas selbst entdecken.

Was also ist die Lösung?

Ich kann etwas vorleben, und andere finden das vielleicht attraktiv und sagen sich: „Oh, sieht das geil aus, was der da auf dem Teller hat, das will ich auch.“ Am Set der Serie „Dark“ zum Beispiel war das Catering sehr, sehr gut. Es gab täglich vegane Gerichte, und am Ende der Dreharbeiten haben die meisten vegan gegessen, weil es einfach am besten geschmeckt hat – und weil die Leute merkten, dass sie für den Rest des Tages noch Energie besaßen und nicht nach ihrem Sauerbraten um viertel nach drei eingepennt sind. Dass sie gut aufs Klo gehen konnten und sich am nächsten Morgen fit gefühlt haben. Auf diese Art wird sinnvolles Verhalten langsam sexy, und es gilt wie im Bett: Alles kann, nichts muss. Man muss es nicht Karma nennen, aber ich mag das Leitmotiv „what goes around comes around“, auf Deutsch wäre das „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“ Oder halt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Diese uralten goldenen Regeln halt. An denen ist ja nicht nur was dran, sondern sie funktionieren auch. Und für alle die, die dann immer rumkrakeelen: „Jetzt darf ich nicht mehr dies, man wird doch wohl noch das, und dann muss ich hier Gendersternchen setzen und was sonst noch alles“ – nein, musst du nicht. Es zwingt dich niemand. Aber du willst doch respektiert werden, oder? Dann respektiere doch auch die anderen. Wenn jemand sagt: „Ich weiß nicht, ob ich Mann bin oder Frau, deswegen nenn mich bitte nicht so“ – dann mach es doch einfach, dadurch verlierst du doch nichts.

In der Netflix-Serie „Dark“ spielen Sie Noah, eine sinistre Gestalt, einen Mahner vor dem Untergang. „Dark“ spielt auf verschiedenen Zeitebenen, unter anderem im Jahr 2052, in dem sich die Erde in einem postapokalyptischen Zustand befindet und die Menschheit weitestgehend ausgestorben ist. Haben Sie Sorge, dass der Mensch den Planeten an die Wand fährt, oder sind Sie zuversichtlich, dass er eine Lösung finden wird?

Von Thomas Bernhard stammt ein Satz, den man so oder so interpretieren kann, den ich aber irgendwie mag: „Die Hoffnungslosigkeit macht alles erträglich.“ Letzten Endes ist alles Entwicklung. So ist auch die Plastikindustrie ein Teil der natürlichen Evolution, denn sie wurde ja von Menschen erfunden und kommt nicht von außerhalb. Es gibt nichts Unnatürliches in der Natur, denn alles ist Natur. Insofern wäre sogar ein Atomkrieg ein Teil der Evolution. So krass es auch klingt. Wenn wir uns morgen alle auslöschen, weil Putin sich von irgendwelchen schmutzigen Bomben bedroht sieht und Biden zurückballert, dann ist es so. Und dann wird kein grüner Punkt auf meinem Kaffeebecher das verhindern.

Das klingt sehr fatalistisch. Ich fragte doch nach Zuversicht ….

Die gibt’s schon noch. Es kann immer noch so oder so kommen. Es liegt an uns und den Machtverhältnissen. Jedes kleine, feine, ganz mikrokosmische Verhalten hängt mit dem großen Ganzen zusammen. Oder wie Noah sagte in „Dark“: Es ist alles eine Bewegung des Ganzen. Und wenn man sich die großen politischen Backlashes anguckt, Trump, Bolsonaro, Ungarn, Polen, Putin, dann schreit uns die Lösung geradezu ins Gesicht: „Leute, redet miteinander!“ Was mache ich mit dem AfD-Wähler, der nebenan wohnt? Dem kann ich morgens ins Gesicht schreien: „Hau ab, du scheiß Nazi!“ Oder ich kann mit ihm über Mülltrennung reden oder fragen, wie es seinen Kindern geht. Das macht mir auch keinen Spaß. In dieser Partei sind Leute an der Macht, die man offiziell Faschisten nennen darf, aber nicht alle die sie wählen, sind welche. Wie bleibt man in Verbindung? Wie hält man sich aus, auch wenn man sich nicht mag? Wie hört man sich wirklich zu, ohne gleich Bescheid zu wissen? Nicht leicht. Und nochmal zur Zuversicht: Ich glaube, bei diesem ganzen Klimawandel-Wahnsinn, der ja nicht mehr aufzuhalten ist, entwickeln sich auch parallel Technologien. So, wie ganze Völker gerade „aussterben“ und Landstriche unbewohnbar gemacht werden, ist es auch möglich, dass sich Dinge irgendwie in eine andere Richtung entwickeln können. Es ist immer noch alles offen. Ich sehe da weder schwarz noch weiß. Ich spüre mich als Teil eines großen Ganzen, das sich entwickelt. Es kann sein, dass die Zivilisation in dieser Generation zu Ende geht. Es kann aber auch sein, dass sie sich zu den Sternen aufschwingt. In der Menschheitsgeschichte gab‘s viele Phasen, in denen gesagt wurde: Das ist das Ende der Welt. Aber noch nie lag beides so dicht beieinander: das mögliche Ende und gleichzeitig die technologische und ökonomische Möglichkeit für die Beseitigung aller großen Probleme. Und ich bin mit 50 in dem Alter, das vielleicht noch zu erleben zu dürfen.

Ist so ein 50. Geburtstag eine Zäsur. Fühlt man sich dann alt?

Der 50. Geburtstag fiel mitten in die Dreharbeiten für den neuen Tatort. Ich bekam einen veganen Kuchen und einen Blumenstrauß, beides hab ich in den Wohnwagen gepackt, und wir haben weiter gearbeitet. Das war keine Zäsur.

Also anders: Was bedeutet es, die Mitte des Lebens erreicht und womöglich überschritten zu haben?

Interessant finde ich diese körperlichen Veränderungen. Also die Altersweitsichtigkeit finde ich wahnsinnig nervig und gleichzeitig total interessant, weil sie mir tatsächlich manchmal Einkehr, Stille und Bei-sich-Sein erlaubt. Ohne Lesebrille sehe ich verschwommen, und dabei merke ich, dass die Welt auch in mir drin stattfindet, nicht nur da draußen. Ich kann auch nicht mehr so schnell rennen, und auch das ist eine wichtige Message des Alters: Hey, mach die Dinge mit Behutsamkeit. Nicht nur, um dich zu schützen, sondern um eine gute Zeit zu haben. Das heißt, ich gehe behutsamer mit den Dingen um, behutsamer mit den Menschen, stelle meine Kaffeetasse behutsam ab. Alles ist intensiver: Wie ich rede, wie ich zuhöre, wie ich mich wahrnehme. Und ich bin gelassener. Das ist eine schöne Erfahrung am Älterwerden. Manchmal nervt‘s aber auch einfach nur.

Wann sind Sie nicht gelassen?

Wenn ich selbst im Auto fahre, weil ich manchmal Carsharing nutze, dann werde ich auch zum totalen Arschloch. Das ist wirklich ein Phänomen an diesem Ding Auto, dass man es wie eine Ritterrüstung um sich trägt und sich dann auch entsprechend benimmt. Aber ich bin auch kein Freund von diesen Fahrrad-Nazis, die jedem vorne auf die Motorhaube hauen. Selbstgerechtigkeit ist etwas wahnsinnig Unappetitliches.

Wann waren Sie selbstgerecht?

Wenn es um politische Meinungen ging. Ich hätte mir viel ersparen können, wenn ich nicht so selbstgerecht aufgetreten wäre. Gleichzeitig ist es aber in einer bestimmten Phase des Lebens absolut nötig, zu sagen: Ich sehe das so und so, denn ich muss erst mal ich werden. Mit 30 oder 40 ist der Prozess, den man so Identitätsbildung nennt, mehr oder weniger abgeschlossen. Und mit 50 merkt man: Identität gibt es gar nicht. Das Ich wird unwichtiger.

Sind Sie damit heute frei von Eitelkeit?

Nein, natürlich überhaupt nicht. Sonst würde ich diesen Beruf nicht ausüben. Ich muss schon was großartig an mir finden, und gleichzeitig muss es einen ziemlichen Mangel geben, sonst würde ich nicht immer um Applaus heischen. Wäre man mit sich voll und ganz zufrieden, würde man nicht Schauspieler werden.

Ihr Gesicht kennen viele, beim Namen muss man nachhelfen. Tangiert das die Eitelkeit?

Ich bin mit meinem Grad von Prominenz sehr, sehr zufrieden. Ich werde ab und zu mal erkannt, aber nicht auf der Straße mit Namen angesprochen. Damit kann ich gut umgehen, und ich kann, wenn ich Bock habe, auch noch allein tanzen gehen. Es gibt Kollegen, die sagen, sie können nicht mehr ins Schwimmbad gehen oder sich in ein Café setzen. Ich kann das, und da bin ich sehr, sehr froh drüber.

In Zusammenhang mit Ihnen fällt gelegentlich auch mal der Satz: „Das ist ein schöner Mann!“ Wie finden Sie das?

Keine Koketterie, es ist wirklich so: I don’t give a fuck. Vor zehn Jahren wollte mich mal eine Maskenbildnerin überzeugen, eine Haartransplantation zu machen. „Mensch Mark, sonst kannst du bald nur noch bestimmte Rollen spielen, wie Bruce Willis oder Heiner Lauterbach.“ Ich finde: Mit deinem Aussehen bist du in die Welt geworfen worden. Es ist das Material, mit dem du umgehen musst. Du kannst ein bisschen was machen, dich pflegen, auf dich aufpassen oder schöne Kleider anziehen. Eine gewisse Demut zu haben, verbunden mit einer Dankbarkeit gegenüber diesem Material, das kann ganz hilfreich und befreiend sein.