Juni 2021 / GALORE / Interview

»Es gibt eine hartnäckige Beharrungstendenz in diesem Land.«

25. März 2021, München. Die Sonne scheint, die Zeit ist begrenzt. Verena Bentele hat einen vollen Tag. Ein Spaziergang vom einen zum anderen Termin ist aber drin. Doch was heißt Spaziergang? Verena Bentele schreitet forsch voran, sie ist ehemalige Leistungssportlerin, schlendern oder flanieren ist nicht so ihr Ding. Schnell und schnörkellos will sie ans Ziel, auch verbal. Unterwegs wird sie immer mal erkannt, von Jungen und auch Älteren. Tätig ist sie als Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VdK. Zudem hat sie ein Buch geschrieben und nichts dagegen, wenn die darin enthaltenen Ideen die Welt verändern würden. Und das ist wohl erst der Anfang einer politischen Karriere, die längst nicht nur deshalb ungewöhnlich ist, weil Verena Bentele blind ist.

Verena Bentele, gestatten Sie mir zu Beginn eine ganz blöde Frage, …

 

… wenn Sie auch eine blöde Antwort verkraften?

 

In Interview-Leitfäden gibt es einige Standardtechniken, derer man sich bedienen kann, falls einem nichts Besseres einfällt. »Entweder-oder-Fragen« zum Beispiel. Eine davon lautet tatsächlich: »Wären Sie lieber taub oder blind?«

 

Blind. Denn das habe ich jetzt schon 39 Jahre lang geübt. Außerdem liebe ich Musik.

 

Schon mal angequatscht worden mit: »Sind Sie blind, oder was?«

 

Ja, das ist mir schon passiert. Ich habe dann gesagt: »Ja, bin ich.« Wenn mich jemand auffordert: »Guck doch mal hin!«, sage ich: »Nee, geht nicht.« Dann erschrecken sich die Leute, sagen: »Oh Gott, tut mir leid.« Das finde ich dann lustig. Viel schlimmer ist es, wenn ich ignoriert werde, wenn jemand nicht mich anspricht, sondern meine Begleitung. Das ist mir schon als Kind passiert, und es passiert bis heute, dass im Restaurant nicht ich gefragt werde, was ich essen möchte, sondern meine Begleitung.

 

Was sind die blödesten Fragen, die Ihnen gestellt werden?

 

Wie siehst du Farben? Wie träumst du? Das sind keine blöden Fragen, aber die absoluten Klassiker. Die Interviewer freuen sich, weil sie meinen, diese Fragen wären innovativ. Ich wurde auch schon gefragt: »Können Sie lesen?« Nun, ich habe Germanistik studiert, ohne Lesen wäre das etwas schwierig geworden. Solche Fragen zeigen mir, wie unsicher die Leute sind. Meistens bin ich daher milde gestimmt.

 

Eine blöde Frage habe ich noch: Haben Sie Bilder an der Wand?

 

Ja, habe ich. Aber keine Kunst oder so, sondern Poster oder Fotokalender von Freunden oder der Familie. Abgesehen vom optischen Aspekt hört sich die Wohnung auch anders an, wenn man Bilder an der Wand hat.

 

Sie sind seit knapp drei Jahren Präsidentin des VdK, des mit über zwei Millionen Mitgliedern größten deutschen Sozialverbandes. Nun haben Sie zusammen mit Ihren VdK-Kollegen Ines Verspohl und Philipp Stielow ein Buch geschrieben: »Wir denken neu – Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet«. Was fordern Sie?

 

Einen Systemwechsel. Zum Beispiel sollen alle in die Rentenkasse einzahlen, auch Unternehmer, Beamte, Politiker. Auch sollte es keine private oder gesetzliche Krankenversicherung mehr geben, sondern eine für alle. Viele sind zwar privat versichert, profitieren aber überhaupt nicht davon, weil sie nur den Basistarif haben. Wir fordern eine Kindergrundsicherung, damit auch Kinder aus Familien mit wenig Geld am Leben und an der Bildung teilhaben können. Und wir wollen eine Pflege, die bezahlbar ist, die würdig ist. Vor allem auch für diejenigen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen. Unsere Visionen haben mit politischem Mut zu tun. Und den braucht es, dazu Ausdauer und Hartnäckigkeit, denn gefordert wurden diese Änderungen schon lang, aber umgesetzt hat sie so konsequent noch niemand. Dabei wäre das durchaus machbar, man müsste nur anfangen.

 

Die Süddeutsche Zeitung schreibt, dass Ihre Ideen »die Welt verändern« würden. Die Welt verändern – das klingt sehr ambitioniert.

 

Also, wenn die SZ das schreibt, dann finde ich das erst mal positiv. Nur Menschen, die die Welt verändern wollen, können auch Systeme durchbrechen. Politisches Handeln bedeutet ja oft, dass in bestehenden Systemen herumgedoktert wird. Wenn es zum Beispiel um Inklusion geht, dann wird überlegt, auf welche Weise man im jetzigen Schulsystem irgendwie auch noch Kinder mit Behinderung unterrichten kann. Stattdessen müsste man das komplette Lernsystem verändern. Aber ein solches Projekt wird in Deutschland bisher nicht angepackt.

 

Haben zu viele Leute etwas gegen Veränderungen, selbst wenn diese positiv sind?

 

Ja, es gibt eine hartnäckige Beharrungstendenz in diesem Land. Es findet sich immer jemand, der Angst hat, Nachteile zu erfahren, weniger zu verdienen, sich umstellen zu müssen. Besitzt man jedoch keinen Mut für Visionen, hat man gleich verloren.

 

Ist die aktuelle Situation im Frühjahr 2021 eine gute Zeit, um dieses Buch zu veröffentlichen und etwas damit zu bewirken?

 

Ja, es ist dafür eine sehr gute Zeit, weil aktuell viele Themen auf dem Prüfstand stehen. Viele Menschen stellen sich die Frage: Wie wollen wir eigentlich leben? Oder: Wie viel Solidarität braucht eine Gesellschaft? Auch fragen sich die Menschen: Ist es nicht besser, häufiger Urlaub in der Nähe zu machen? Muss man für jede Konferenz einen Inlandsflug buchen? Was wir aber auch sehen, ist, dass es einiges erfordert, die Menschen dazu zu bringen, ihre Gewohnheiten zu verändern. Wenn jemand siebenmal pro Woche Fleisch isst, dann könnte man durchaus über die Menge diskutieren. Für Veränderung ist die Bereitschaft wichtig, sich selbst und das eigene Verhalten zu hinterfragen.

 

Welche Rolle spielt die Umverteilung von Vermögen?

 

Es geht um Fairness in der heute sehr ungleichen Verteilung. Wir fordern, dass es eine sozial gerechte Finanzierung der Pandemie gibt, zum Beispiel durch eine Vermögensabgabe. Denn warum sollten sich nicht alle, die ein sehr großes Vermögen besitzen, mit einem Prozent ihres Vermögens an der Bewältigung der Krise beteiligen? Wir müssen auch dringend die Erbschaftssteuer reformieren. Es gibt in Deutschland sehr viele Menschen, die wahnsinnig wenig besitzen, während die oberen zehn Prozent über mehr als 90 Prozent des Vermögens verfügen. Und diese Diskrepanz wird immer krasser! Da muss der Staat irgendwann eingreifen. Die meisten werden reich durch Erbschaften und Spekulationen an der Börse. Ein riesiges Vermögen kann sich kein einzelner Mensch erarbeiten. Erarbeitet haben das die vielen Tausend Menschen an den Fließbändern oder die Paketzusteller. Hinzu kommt, dass der Reichtum auch mithilfe der Infrastruktur entstanden ist, die ein Staat zur Verfügung stellt: Schulen, Straßen, Krankenhäuser. Diese Voraussetzungen sind für diesen Reichtum in hohem Maß mitverantwortlich. Deshalb haben sehr vermögende Menschen eine Verpflichtung, mehr zurückzugeben, als sie es heute tun, um sich am Gemeinwohl zu beteiligen.

 

Haben Sie eine Ahnung, warum diese von Ihnen angesprochenen 90 Prozent selbst häufig dagegen sind, dass die Vermögen gerechter verteilt werden?

 

Leider nicht, nein. Manche sehen es vielleicht so: Wer für etwas arbeitet, der hat auch das Recht, das erwirtschaftete Geld zu behalten – egal wie viel es ist. Und vielleicht haben einige die Hoffnung, irgendwann selbst mal so viel zu besitzen, und Angst davor, dass dann jemand kommt und es ihnen wieder wegnimmt. Aber was Sie sagen, stimmt. Wer solche Visionen formuliert, wie wir es getan haben, der muss damit leben, dass ihm sozialistische Tendenzen vorgeworfen werden. Das, was ich will, ist mehr Gerechtigkeit. Spannend ist: Immer mehr reiche Menschen sagen selbst, dass sie mehr geben wollen.

 

Sie wirken aber schon ein wenig ungeduldig.

 

Ja, mir geht manches zu langsam. Ich habe keine unbegrenzte Lebenszeit, also wäre es schon wünschenswert, wenn in den nächsten 40 Jahren etwas Systemrelevantes passieren würde. Ich bin ein Mensch, der Ergebnisse erzielen möchte. Wenn wir Schleife um Schleife drehen, kommen wir zu langsam voran.

 

Manchmal kommen einem beim Schleifendrehen aber ganz gute Gedanken.

 

Das stimmt, aber irgendwann sollten klare Spielregeln auch eine Veränderung bewirken. Vom permanenten Schleifendrehen kann einem schwindlig werden.

 

Um Ihre Ziele zu verwirklichen, müssten Sie ein Amt als Ministerin anstreben.

 

Derzeit bin ich eine sehr zufriedene Präsidentin des größten Sozialverbandes. Aber irgendwann in der Zukunft kann ich mir vorstellen, ein politisches Amt anzutreten. Auch der VdK kann politisches Handeln prägen und verändern. Aber irgendwann selbst Gesetze auf den Weg zu bringen, das wäre spannend. Die Frage ist, ob mir das jemals jemand anbietet, als forsche Kritikerin des politischen Handelns heute. Neben meinem derzeitigen Job gehören Sozial- oder Agrarministerin zu meinen Traumberufen – oder Bundespräsidentin.

 

Aber dann könnten Sie nichts entscheiden.

 

Als Bundespräsidentin hätte ich das höchste Amt im Staat und die Macht des Wortes, das ist nicht zu unterschätzen. Jetzt versuche ich aber erst mal in meiner Rolle als Präsidentin des VdK das System zu verändern. Ich nehme dabei auch in Kauf, wenn man meine Ideen im ersten Schritt illusorisch und erst im zweiten Schritt visionär findet.

 

Kurz nachdem Sie im Mai 2018 zur Vorsitzenden des VdK gewählt wurden, sagten Sie: »Ich habe den schönsten Job, den man haben kann.« Stimmt das noch?

 

Ja, es ist fordernd, aber ich finde es schön, mich anzustrengen und für Dinge zu kämpfen. Im Sport um Medaillen – und jetzt für politische Forderungen für unsere Mitglieder. Dabei habe ich rund 2,1 Millionen Menschen in meinem Team. Und für diese Menschen etwas durchzusetzen, das ist ein absoluter Traumjob.

 

Das ZDF bezeichnete Sie als »die wahrscheinlich coolste Vorsitzende des VdK«. Was ist cool an Ihnen?

 

Meine Vorgängerinnen und Vorgänger waren im Ruhestand, hatten vor dem VdK politische Spitzenämter inne, waren in Vorständen. Mein Weg zur Präsidentin verlief komplett anders. Ich war Leistungssportlerin, bin jünger, halte Motivationsvorträge und trainiere Führungskräfte, sage deutlich meine Meinung.

 

Fühlen Sie sich manchmal behindert in Ihrer Amtsausübung, weil Sie blind sind?

 

Ja klar, das passiert schon. Mich strengen zum Beispiel Veranstaltungen an, bei denen ich niemanden dabeihabe, der mir die Augen ersetzt und mich zu den Personen führt, die ich treffen möchte. Es geht für mich darum, mir die richtige Unterstützung zu organisieren.

 

Wie reagieren politische Verhandlungspartner auf Sie?

 

Ich vereine ja mehrere »Handicaps«: Ich bin blind, ich bin eine Frau, ich bin jung. Manchmal weiß ich gar nicht, was mich davon mehr behindert. Ob in der Politik, in Verbänden oder in der Wirtschaft: Vor allem Männer gehen anders mit mir als blinder Frau um, gerade wenn es darum geht, wie Absprachen getroffen werden. Und da sind wir wieder beim Thema Umdenken: Manche Männer müssen das Verhaltensmuster, Frauen als gleichwertige und ernst zu nehmende Gesprächspartnerinnen anzuerkennen, offensichtlich noch erlernen. Und auch hier ärgert mich, dass es so langsam vorangeht.

 

Sie kamen über Ihre Großmutter zum VdK. Was hat sie Ihnen mitgegeben?

 

Wie wichtig es ist, anderen Menschen zu helfen, sie zu fördern und zu unterstützen. Sie hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt, die grauenvollen Zeiten mit vielen Toten und Kriegsversehrten. Für sie war es deshalb immer eine Ehrensache, den VdK zu unterstützen. Ich wurde 2007 Mitglied und danach bin ich als Sportlerin immer wieder für den Verband zu Infoständen auf Messen gekommen oder habe eine Veranstaltung unterstützt. So hat sich das entwickelt. Tatsächlich bin ich für ein VdK-Mitglied sehr jung: Das durchschnittliche Eintrittsalter liegt bei 55 Jahren.

 

Es gab Ende 2018 ein wenig Aufregung um Ihre Entlohnung beim VdK. Sie sind die erste hauptamtliche Vorsitzende und bekommen ein angemessenes Gehalt. Dagegen klagte der baden-württembergische Landesverband.

 

Ich bin froh, dass das inzwischen geklärt ist. Diese Auseinandersetzung hätte ich lieber im Gespräch als vor Gericht geklärt, aber so ist das Leben. Verbände müssen heutzutage für sich entscheiden, ob sie nur Rentner im Vorstand haben wollen, die das ehrenamtlich übernehmen können, oder ob sie sich auch für jüngere Menschen öffnen wollen. Das geht dann aber nur mit einem Gehalt. Ich habe als Präsidentin des VdK tatsächlich eine volle Woche und keine Zeit, nebenher noch einen anderen Vollzeitjob zu erledigen. Ich bin froh, dass ich manchmal noch Zeit finde, um ein Seminar für Führungskräfte zu geben oder einen Vortrag zu halten.

 

Von 2014 bis 2018 waren Sie als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen tätig. Wie kam die damals zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles auf Sie?

 

Sie hatte mich auf einer Veranstaltung kennengelernt. Als sie Ministerin wurde, hat sie dann nach geeigneten Menschen mit Behinderungen in der SPD geschaut und sich an mich erinnert. Es ist schon wild, dass vor mir in dieser Funktion immer nur Abgeordnete waren, die selbst keine Behinderung hatten.

 

Wie kann das sein?

 

Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß: Es braucht mehr Menschen mit Behinderungen in Parteien und Organisationen, die für ihre Rechte einstehen. Andere Menschen mit Behinderungen zu einem politischen Engagement zu motivieren, ist mir daher wichtig. Es sollten auch viel mehr Menschen in Parteien sichtbar werden, die einen Migrationshintergrund haben. Menschen mit jeglicher sexuellen Orientierung. Menschen, die anderen Glaubens sind – alle, die in irgendeiner Weise zur Diversität beitragen. Und die Parteien sollten ihre Ämter dann auch vielfältiger besetzen. Die Diversität in unseren Parteien und im Bundestag ist zu gering. Das ist schade.

 

Was haben Sie in den vier Jahren als Beauftragte für die Bundesregierung gelernt?

 

Ich habe politische Verhandlungen hautnah miterlebt. Mir wurde klar, wie es ist, wenn man in die Mühlen der Politik gerät. Dass es dabei oft um Kompromisse geht, darum, einen Weg zu finden, der für alle Beteiligten einigermaßen vertretbar ist. Politische Arbeit ist geprägt davon, sich Verbündete zu suchen.

 

Hat Ihnen diese Arbeit Spaß gemacht?

 

Ja schon, vor allem bin ich dankbar für die Einblicke, die ich erhalten habe. Aber mein jetziger Job ist mir derzeit lieber. Heute kann ich fordern, was für meine 2,1 Millionen Mitglieder gut ist. Und ich muss dabei nicht auf eine gute Idee verzichten, nur weil diese nicht die Parteiposition widerspiegelt oder so nicht im Koalitionsvertrag steht. Meine Möglichkeiten als Beauftragte der Bundesregierung waren begrenzt, ich konnte ein Gesetz nicht stoppen.

 

Sondern?

 

Bestenfalls eine Stellungnahme abgeben und in Gesprächen überzeugen. Viele Menschen mit Behinderung sehen in ihrer oder ihrem Beauftragten die Person, die vieles durchsetzen kann. Für viele Menschen haben meine Forderungen, Stellungnahmen, Gespräche hinter den Kulissen mit den Ministerinnen und Ministern jedoch nicht die Veränderung gebracht, die sie sich gewünscht hätten. Den Politikern wiederum war das, was ich forderte, immer zu viel und zu teuer. Ich empfand die vier Jahre in diesem Spannungsfeld als großartige politische Schule, aber dann war es auch genug.

 

Sie haben wichtige Politikerinnen und Politiker getroffen, unter anderem auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie haben Sie sie wahrgenommen?

 

Sie war sehr zugewandt, extrem freundlich und empathisch. Wir saßen in ihrem Arbeitszimmer in einer Sitzecke, haben Kaffee getrunken und uns fachlich ausgetauscht, das fand ich angenehm. Es waren auch keine Bodyguards in der Nähe, ich wurde offensichtlich als vertrauenswürdig eingestuft. Das Tolle an ihr war, dass sie sehr gut auf die Themen vorbereitet war und zu allen Punkten eine Meinung hatte. Sie hat auch sehr persönlich von ihrer Kindheit erzählt und welche Berührungspunkte sie mit dem Thema Behinderung hat. Ich fand das Gespräch insgesamt sehr wertschätzend.

 

Wie ist die Stimme von Angela Merkel in einem solchen Kontext?

 

Eher entspannter, als man sie aus dem Fernsehen kennt. Aber das ist auch kein Wunder, würde ich sagen.

 

Es heißt, Blinde seien schwerer manipulierbar, weil sie aus der Stimme viel heraushören und dabei nicht von der Optik geblendet werden. Ist da etwas dran?

 

Ich kann hören, wie entspannt oder aufgeregt jemand ist, und auch, wie ernst Dinge gemeint sind. Ob jemand tatsächlich hinter den Dingen steht, die er oder sie sagt. Ob jemand also authentisch ist. Meistens liege ich ziemlich richtig mit meinen Einschätzungen. Die Stimme legt die innere Haltung offen und ist ein schönes Fenster zur Seele.

 

Glauben Sie, dass Sie generell genauer zuhören als andere Menschen?

 

Auf jeden Fall! Dadurch dass der visuelle Sinn wegfällt, bin ich sehr fokussiert. Das Gehirn des Menschen ist in der Lage umzulernen. Wenn das Auge als Sinn ausfällt, dann lässt sich das Gehör noch besser schulen, auch dafür, dass ich mich verstärkt darüber orientieren kann. Das funktioniert gut. Ich habe gelernt, Wände oder Türen zu hören.

 

Sie hören also Hindernisse?

 

Viele, ja. Was mich aber nicht davor schützt, häufig gegen etwas zu laufen. Das ist mir schon als Mädchen so gegangen: Wenn ich schnell gehe, dann höre ich die Hindernisse oft zu spät – und dann klebe ich am Pfosten. (lacht) Ich musste häufiger genäht werden, habe ein paar Narben und Beulen. Aber das sind nur Kleinigkeiten.

 

Sie besitzen ein Farberkennungsgerät, das Ihnen dabei hilft, sich stimmig zu kleiden. Welche anderen Geräte begleiten Sie im Alltag?

 

Ich habe viele sprechende Geräte, zum Beispiel meine Küchenwaage oder mein Fieberthermometer. Dazu ein kleines Plastikteil, das mir sagt, welchen Wert ein Geldschein hat, falls ich das mal nicht erfühlen kann. Auch mein Handy spricht, es liest mir alles vor. Ich weiß, wie die Tastatur aufgebaut ist. Dann liest mir das Handy vor, ob ich auf dem richtigen Buchstaben gelandet bin. Diese Technik macht mein Leben viel einfacher.

 

Ist es ein Problem für Sie, dass viele Menschen das, was Sie können oder eben auch nicht, falsch einschätzen?

 

Manchmal macht es mich sprachlos. Es würde helfen, wenn Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlicher zusammen aufwachsen würden.

 

Sprich: mehr Inklusion.

 

Ich bin sicher, dass Integration und Inklusion gut funktionieren können. Wichtig dafür ist, dass das Miteinander nicht als persönliche Einschränkung gesehen wird. Entscheidend ist, dass die Strukturen stimmen. Es ist klar, dass inklusive Klassen problematisch sind, wenn Lehrkräfte 30 und mehr Kinder in ihrer Klasse haben. Wären Klassen kleiner, sähe es wohl anders aus. Sie sehen, auch hier muss es darum gehen, das Schulsystem grundsätzlich zu reformieren. Dann ginge es – und dann würden alle davon profitieren.