Mai 2021 / Mehr Als Ein Spiel / Interview

„Weiter, immer weiter!“

Nach dem Spiel sagte Oliver Kahn gleich zwei Sätze, die zu geflügelten Worten des Fußballbetriebs wurden. „Da ist das Ding“ und „Weiter, immer weiter“ gingen in den Wortschatz des gemeinen Fußballfreundes über und werden seither bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit angebracht. Aber wie werden Worte geflügelt? Wie zu Phrasen und Redewendungen? Wie funktioniert überhaupt die Sprache des Fußballs? Kaum jemand weiß das so gut wie der Linguist Simon Meier-Vieracker, Betreiber des Blogs „fussballlinguistik.de“.

Nach dem Spiel sagte Oliver Kahn gleich zwei Sätze, die zu geflügelten Worten des Fußballbetriebs wurden. „Da ist das Ding“ und „Weiter, immer weiter“ gingen in den Wortschatz des gemeinen Fußballfreundes über und werden seither bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit angebracht. Aber wie werden Worte geflügelt? Wie zu Phrasen und Redewendungen? Wie funktioniert überhaupt die Sprache des Fußballs? Kaum jemand weiß das so gut wie der Linguist Simon Meier-Vieracker, Betreiber des Blogs „fussballlinguistik.de“.

 

EIN GESPRÄCH ÜBER PHRASEN.

 

Herr Professor Meier-Vieracker, wie verankern sich Sätze wie „Da ist das Ding“ im allgemeinen Sprachgebrauch?

 

Der Linguist Armin Burkhardt beschreibt drei semantische Prinzipien in der Fußballsprache: die Metapher, die Metonymie und die simplifizierende Abstraktion. „Da ist das Ding“ ist zum einen das perfekte Beispiel für eine simplifizierende Abstraktion. Dazu gehören Wörter wie „machen“, „Ding“, „Teil“, „tun“ – Begriffe, die sich auf alles Mögliche beziehen können. Zweitens wurde der Satz von Oliver Kahn in einer sehr exponierten Situation gesagt. Diese beiden Faktoren sorgen dafür, dass es ein geflügeltes Wort wird. Denn diese Emotionalität und die ganze Dramatik dieser spektakulär gewonnenen Meisterschaft haftet dem Satz an. Und all das kann quasi wieder heraufbeschworen werden, wenn man den Satz ausspricht. Wir sprechen in der Linguistik dann von idiomatischer Prägung.

 

Gibt es noch weitere Faktoren, die dafür sorgen, dass so ein Satz ikonisch wird?

 

Mein Vater sagte oft den lateinischen Spruch „Quod licet iovi, non licet bovi.“ (Anm. d. Red.: Was der Höhergestellte darf, kommt dem niedriger Stehenden nicht zu.“) Man gibt sich mit solchen Sätzen eine bildungsbürgerliche Aura. Das nennen wir sozialsymbolischen Gehalt. Es wird Zugehörigkeit markiert, wenn wir Sätze verwenden, die innerhalb einer Gruppe, etwa auch Fußballfans, eine besondere Bedeutung haben. Wir erwarten, dass die Anderen uns verstehen. Das hat etwas Nähestiftendes, Solidarisierendes.

 

„Da ist das Ding“ war ja auch ein Schrei der Erleichterung. Und ähnlich der Satz: „Weiter, immer weiter“. Wie schätzen Sie den ein?

 

Es gibt ja meines Wissens keine Aufnahme von dem Satz, der ist nun kolportiert worden. Also Oliver Kahn ist zu Hitzfeld gerannt, hat ihn umarmt und gesagt: „Weiter, immer weiter, niemals aufgeben.“ Anders als „Da ist das Ding“, dem archaischen Siegesschlachtruf, war aber „Weiter, immer weiter“ überhaupt nichts Neues. Es war lange etabliert, vor allem bei Ausdauersportarten, ein Symbol für kämpferischen Willen. Oliver Kahn hat es quasi für sich eingemeindet. Interessant ist, dass wir in späteren Berichten finden: Oliver „Weiter, immer weiter“ Kahn. Oder Oliver „Wir brauchen Eier“ Kahn. Diese Sprüche wurden also seinem Eigennamen zugerechnet, was ich linguistisch total spannend finde.

 

Hat das auch mit seiner Persönlichkeit zu tun?

 

Ja, klar. Es gibt ja diesen sprichwörtlichen „Kahnsinn“, also diese positive Verrücktheit und diese Verbissenheit. Das hat Oliver Kahn erfolgreich zu seiner Marke gemacht. Und da ist dieses „Weiter, immer weiter“ gewissermaßen sinnbildlich.

 

Man könnte Bücher darüber schreiben, was in scheinbar aussichtslosen Lagen zu tun ist. Oder man sagt: „Weiter, immer weiter.“ Sprache verkürzt Komplexes immer wieder zu griffigen Slogans …

 

Ja, genau. Und da sind gerade diese beiden Sätze natürlich von großer sprachlicher Ökonomie. Emotionalisieren, aber mit möglichst wenig sprachlichem Material. Und weil der Satz aus dem Fußball kommt und es auch jeder weiß, kann man der Situation etwas Spielerisches geben und die Ernsthaftigkeit nehmen.

 

Was muss ein Satz mitbringen, um sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Menschen zu etablieren?

 

Das lässt sich ganz schwer sagen. Typisch für solche Sentenzen ist, dass sie in ihrer Einfachheit auf viele verschiedene Situationen anwendbar sind. Sie dürfen also nicht zu präzise sein, eher ein bisschen vage, und sie müssen viel mit der Kraft des Assoziativen arbeiten. Berühmt-berüchtigt sind ja die Sätze von Sepp Herberger …

 

… „Ein Spiel dauert neunzig Minuten“ und „Der Ball ist rund“ …

 

Ja, oder auch: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Solche Sätze kann man abstrahieren, indem man das Substantiv durch eine Variable ersetzt – „Nach dem X ist vor dem X“. So kann man sie auf alle möglichen Situationen anwenden … „Nach dem Weihnachtsmarkt ist vor dem Weihnachtsmarkt“ oder so.

 

Die Sätze von Sepp Herberger haben sich ja vor über 60 Jahren auch ohne Massenmedien und YouTube etabliert …

 

Es sind Sätze, die an sich wenig Informationswert haben, weil sie nur benennen, was eh jeder weiß. Wir nennen das Tautologien – „Der Kreis ist rund“ wäre eine. „Der Ball ist rund“ und „Das Spiel dauert 90 Minuten“ sind verwandt mit der Tautologie, aber eher Implikaturen. Also auch etwas wie: „Krieg ist Krieg“. Damit ist zwar nichts ausgesagt, aber wir suchen trotzdem einen tieferen Sinn dahinter. Weil wir davon ausgehen, dass der Andere nicht nur inhaltslosen Quark erzählen möchte.

 

Auch der Satz „Eier, wir brauchen Eier“ stammt von Oliver Kahn. Warum wurde das so eine bekannte Redewendung?

 

Das ist einer dieser ganz typischen Alltagssexismen, die den Fußball durchziehen. Ein sehr verbreiteter Jargon, der aber normalerweise im verschlossenen Raum bleibt. Die Fußballer wissen ja eigentlich, dass sie sich vor Kameras anders äußern müssen. Da wird in sehr ritualhafter Art immer der gleiche weichgespülte Kram erzählt. Oliver Kahn ist ausgeschert. Und wenn einer nur ein bisschen ausrastet, dann ist der YouTube-Erfolg sicher. Auch vor zwanzig Jahren war der Satz ein Tabubruch, der schnell die Runde machte.

 

Aber was er eigentlich sagen wollte, war ja weniger etwas Biologisches. Sondern: „Wir müssen mutiger, engagierter auftreten.“

 

Genau, es ist offenbar ein besonderer Einsatzwille gemeint. Kahn ist ja auch nicht der Einzige, der die „Eier“ so verwendet. Das letzte Mal habe ich es von Thomas Hitzlsperger bei der WM 2018 gehört, in der Pause des Schweden-Spiels. Aber wenn spielerische Qualitäten mit einer bestimmten Form von Männlichkeit assoziiert werden, die im Umkehrschluss alles abwertet, was davon abweicht, dann ist das einfach sexistisch. Punkt.

 

Haben es Redewendungen aus dem Fußball leichter, sich in der Sprache zu etablieren?

 

Bestimmt. Allein schon durch die große Popularität des Fußballs. Und man kann Dinge so in einen spielerischen Rahmen stellen. Das macht sie zusätzlich attraktiv.

 

Dann gibt es noch die sprachlichen Fehlleistungen, a la „Mailand oder Madrid“ oder „Wäre, wäre Fahrradkette“. Wie sehen Sie die?

 

Ich möchte alle, die sich darüber lustig machen, mal auffordern, nach 90 Minuten Hochleistungssport Interviews zu geben. Auch ist es nichts Fußballspezifisches, dass jemand Redewendungen durcheinanderbringt. Schon in „Don Quijote“ sprach Sancho Panza fast ausschließlich in falschen Redewendungen. Auf der großen Bühne Fußball bekommt das dann eine besondere Aufmerksamkeit – und es gehört auch sicher zur Folklore.

 

Das klassische Fußballmagazin lebt ja geradezu von den alten, schiefen Bildern und Metaphern. Wie kommt das denn?

 

Auch das gehört zur Fußballfolklore. Die Leute wollen das, weil es auch Spaß macht. Ich habe mit meinem Züricher Kollegen Stefan Hauser die Institution des Phrasenschweins im „Doppelpass“ untersucht. Es gibt ja eine passende linguistische Teildisziplin, die Phraseologie. Wir wollten also wissen, ob der Phrasenbegriff im „Doppelpass“ wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Also: Ist das, was dort als Phrase gilt, auch wirklich eine Phrase?

 

Und? Ist es?

Nein, natürlich nicht. Es ist ja keine Systematik erkennbar. Aber worauf es ja eigentlich ankommt: Am lautesten wird geklatscht und am meisten gelacht, wenn die Phrasen fallen und gezahlt werden muss. Oft hauen Gäste auch ganz gezielt eine Phrase raus, um dann unter dem Johlen des Publikums einzahlen zu dürfen. Man kann sich Sympathiepunkte verschaffen, indem man bewusst die Phrasenklaviatur spielt. Es ist sehr fussballtypisch, das zu tun, aber gleichzeitig zu zeigen, dass man weiß, dass man Phrasen drischt.

 

Simon Meier-Vieracker, 41, ist Professor für Angewandte Linguistik an der TU Dresden. Ganz besonders gern forscht er dazu, wie sich Sprache und Fußball gegenseitig beeinflussen. Er betreibt auch deshalb den Blog „fussballlinguistik.de“ und beteiligt sich am Podcast „Die Phrasendrescher“.