Juli 2013 / ADAC Reisemagazin / Text

Land in Sicht

Die Besatzung der MS Europa legt nach längerer Fahrt endlich im Hafen von Civitavecchia an. Und die Seeleute haben nur ein Ziel: die Innenstadt von Rom

Die Wolken ballen sich an diesem Morgen graublau über dem Hafen von Civitavecchia. Alexander  Thurein, 45, blickt nach oben, und als die ersten Tropfen in seinem Gesicht landen, beginnt er zu strahlen. Er freut sich. Über das miese Wetter. „Der erste Regen seit Hongkong“, sagt er. Übersetzt in Festland-Zeitrechnung heißt das: Seit etwa sechs Wochen hatten sie nur Hitze. Morgens, mittags, abends und nachts. Schwüle, bullige, feuchte, flirrende, angenehme, trockene oder einfach nur enorme Hitze. Sie fuhren die indische Küste entlang, legten in Dubai an und passierten den Suezkanal. Und nun endlich Regen.

 

Alexander Thurein ist Kreuzfahrtdirektor auf der MS Europa, dem „besten Kreuzfahrtschiff der Welt“, wie er stolz verkündet. Das ist belegbar durch die Bewertung des Schiffskenners Douglas Ward und dessen „Berlitz Cruise Guide“. Der versah im September 2012 die MS Europa zum 13. Mal in Folge mit dem Titel. Denn „5-Sterne-Plus“, die Auszeichnung, die Thurein immer wieder einflicht, hat kein anderes Traumschiff. Und überhaupt: Traumschiff. Das Exemplar aus der bekannten ZDF-Serie gilt für schwimmende Hotels als Blaupause. Und wer den Vergleich weiter strapaziert, für den wäre Thurein so etwas wie Sascha Hehn. Der Kreuzfahrtdirektor ist an Bord verantwortlich für Touristik, Entertainment und Sport. Er repräsentiert und ist charmant. Aber das Traumschiff sei das hier nicht, korrigiert Thurein, „eher die Lindenstraße. Viel weniger glamourös, und es gibt jede Woche eine neue Folge“.

 

Heute also ist Landgang. Das ist nicht selbstverständlich, denn das Arbeitspensum hinter der strahlend weißen Kulisse der MS Europa ist immens. Da bleibt nicht immer die Zeit, um rauszugehen. Hinter einer der vielen unbeschrifteten Türen verstecken sich geheimnisvolle Räume wie das Backoffice. Es erinnert in seiner Schlichtheit, mit den Computern und den Leitz-Ablagen eher an ein Büro im Kreisverwaltungsreferat. Nur Details wie das Mousepad mit der Aufschrift „Enjoy Bora Bora“ oder zahlreiche Fotos von irgendwo – Sydney, Polarmeer, Travemünde – verraten, dass dies nicht der Fall ist. Hier wird ein Großteil der Schiffsarbeit erledigt, die ganz unromantisch aus Excel-Tabellen und E-Mails besteht. Planung, Organisation – das ist auch Thureins halbes Schiffsleben. Deshalb sprechen er und die anderen immer wieder davon, den „Kopf freizukriegen“, wenn es um den Landgang geht.

 

„Das Besatzungsmitglied hat außerhalb der Hafenarbeitszeit Anspruch auf Landgang, so weit die Sicherheit des Schiffs und seine Abfahrtzeit es zulassen.“ So steht es in §61 („Landgang“) des Seemannsgesetzes (SeemG). In früheren Zeiten der christlichen (und unchristlichen) Seefahrt waren diese Ausflüge weit wichtiger als heute. Die Schiffe waren wochenlang auf See, und das Schaukeln, der Dreck, die Arbeit, die immergleichen Gesichter machten den Matrosen das Leben zur Hölle. Da war ein Landgang Paradies, Erlösung und Verheißung. Und wegen der häufig tagelangen Liegezeiten auch gut möglich. Dazu kam mitunter mal Post aus der Heimat. „Ich weiß noch heute, was mir Mutter schrieb / In jedem Hafen kam ein Brief an Bord / Und immer schrieb sie ‚Bleib nicht so lange fort‘“, sang einst Matrosenpoet Freddy Quinn.

 

Vom Programm auf den Landgängen erzählen Hafenviertel wie St. Pauli und seine Reeperbahn. In modernen Zeiten aber gibt es den Landgang nur noch gezähmt und pragmatisch. Moderne Containerschiffe werden innerhalb weniger Stunden entladen, beladen und laufen wieder aus. Da bleibt nur Zeit, sich am Kai die Füße zu vertreten. Und Mutter muss auch keine Briefe mehr in die Häfen schicken, sie skypt mit dem Buben. Bei Kreuzfahrtschiffen wie der MS Europa ist der Landgang dagegen zum Geschäftskonzept geworden. Busweise werden die Passagiere, sobald das Schiff vertäut ist, zu den Sehenswürdigkeiten einer Stadt gebracht.

 

Auch die Crew geht gern von Bord. „Die Enge und das Gefühl, immer präsent und erreichbar sein zu müssen, können auch aufs Gemüt schlagen und nach einigen Monaten zu einem Schiffskoller führen“, sagt Stefanie Lämmerhirt, 33. Die Entertainment-Managerin ist an Bord für die Betreuung der Künstler zuständig. Gegen den Koller geht es heute nach Rom.

 

In dem Kleinbus sitzen außer Alexander Thurein und Stefanie Lämmerhirt auch MS-Europa-Kapitän Hagen Damaschke, 49, und Sous-Chef Robert Schröder, 35. „Es ist hilfreich, mal zwei oder drei Stunden an Land zu gehen. Dann weiß ich, dass statt einer 10-Seiten-Mail auch zwei Sätze genügen“, sagt Kapitän Damaschke, den man umgehend aufs ZDF-Traumschiff schicken möchte. Ein 1,90-Meter-Berg von Mann mit kantigen Zügen, raunzendem Bass und Händen, groß wie Kuchenteller. Er wirkt, als könne er das Schiff zur Not auch mit bloßen Händen aus dem Hafen ziehen.

 

Der Berliner war als junger Mann auf DDR-Frachtschiffen unterwegs und damit einer der wenigen, die schon vor dem Mauerfall irgendwie frei waren. Nach der Wende hatte er mit der Seefahrt eigentlich abgeschlossen, studierte BWL. Aber am Tag der Abschlussfeier kam ein Anruf, ob er nicht Lust habe, mit der MS Hanseatic durch den Panamakanal in die Antarktis zu fahren. „Nachts bei den Pinguinen und den Walen, mein Gott, wer erlebt so was schon?“, fragt er mit blitzenden Augen. Er blieb – natürlich – dabei und kümmerte sich um die Karriereleiter, bis er schließlich im Mai 2001 erstmals Kapitän wurde. Seit 2003 ist er dies auf der MS Europa.

 

In Rom waren sie schon lang nicht  mehr. Robert Schröder überhaupt noch nie. Er wollte sich diesen Ort stets „für später“ aufheben. „Es ist ja nicht nur das Kolosseum, deshalb will ich Zeit haben.“ Denn die Landgangroutine sieht oft genug so aus: „Man fährt dahin, flitzt durch die Gegend, macht Fotos, zack, zack, zack – und dann muss man wieder zurück, sich umziehen, weiterarbeiten.“ Der 35-jährige Sous-Chef sieht aus wie Anfang 20 und  freut sich wie ein Kind auf den ersten Besuch der Ewigen Stadt. Ein reiner Zeitvertreib wird es allerdings nicht, denn er hat von seinem Küchenchef den Auftrag bekommen, auf den Markt zu gehen. Doch das macht er gern. Zuletzt war er in Malaysia auf dem Markt, kaufte frischen Fisch und Schlangenbohnen. In Rom hat er 1500 Euro einstecken, die soll er zum Wohl der Passagiere in Kräuter, Büffelmozzarella, Trüffeln und Olivenöl investieren.

 

Das und die Vorgabe, in knapp sieben  Stunden wieder im Hafen Civitavecchia sein zu müssen, erfordern eine kompakte Route. Los geht es an der Piazza Navona mit ihren drei Brunnen, darunter der berühmte Vierströmebrunnen. Dort sind  schon ein paar Reisegruppen, die einen ersten Eindruck vermitteln vom Getümmel inmitten römischer Pracht. Etwa fünf Fußminuten weiter südlich kommt Robert Schröder zum Einsatz. Der Campo de’ Fiori ist einer der bekanntesten Märkte der Stadt. Schröder huscht durch die Gänge, schnuppert an Grünzeug, drückt an Tomaten und Auberginen herum. Am Ende hat er etwa zehn Tüten in den Händen. Weiter geht’s Richtung Largo di Torre Argentina, wo der Verkehr lärmt und Rom als Moloch erscheint. Wer das ausblenden kann, der bestaunt den Ort, wo einst Cäsar erstochen wurde. Von hier aus gehen die vier Ausflügler um ein paar Ecken zum Kapitolshügel (Monte Capitolino). An dessen hinterer Seite haben sie einen grandiosen Blick über das Forum Romanum. Ein gigantisches Wimmelbild, das jeden Augenblick neue Details verrät. Robert Schröder macht Fotos, zack, zack, zack.

 

Vom Aussichtspunkt geht es hinauf zum Kapitolsplatz (Piazza del Campidoglio), gestaltet von Michelangelo, wo nicht nur der Senatorenpalast (das heutige Rathaus Roms) steht und ein bronzener Marc Aurel zum Vatikan blickt, sondern auch die Musei Capitolini eine Alternative zu vielen anderen überlaufenen Museen der Stadt bieten. Dann wandern die vier zum Fluss und passieren die Tiberinsel. Einst soll die Schlange des Äskulap ausgebüxt und hier verschwunden sein. Jenes Tier, das bis heute das Symbol aller Ärzte ist.

 

Am anderen Flussufer, im vormaligen Arbeiterviertel Trastevere, warten verwinkelte Wege und viele kleine Restaurants und Pizzerien. Nach der Pizzapause führt ein letzter beherzter Fußmarsch auf den Hügel Gianicolo, wo sich auf Höhe der Fontana dell’ Acqua Paola noch einmal das Panorama der Stadt überblicken lässt. „Sie ist riesig groß, beeindruckend, man muss noch mal herkommen, für mehrere Tage, denn man nimmt auch beim dritten Landgang noch nicht alles auf“, sagt Stefanie Lämmerhirt. Der Kleinbus steht bereit, die Zeit ist knapp, und bevor die vier Seeleute wieder zur „Mutti“ (wie sie das Schiff nennen) müssen, wollen sie wenigstens noch kurz zum Petersplatz und zum Kolosseum. Und danach bringt sie der Bus zurück in den windigen Hafen von Civitavecchia.

 

Pünktlich um kurz nach 19 Uhr gibt Kapitän Hagen Damaschke die Kommandos zum Auslaufen und steuert das Schiff von der Kaimauer weg. Der Wind wird stärker und jagt in Böen herüber. Als wolle er die MS Europa hinauspusten. Und der Regen prasselt heftig von oben und auch  von der Seite. Das beste Schiff der Welt verlässt Civitavecchia leise und ohne das sonst obligate Tuten des Schiffshorns. Das nämlich kostet hier 5000 Euro Strafe. Auch so eine Formalie, die ein Kapitän heute im Kopf haben muss.