September 2013 / ADAC Reisemagazin / Text

Die Waldmeister

Allein 3000 bis 4000 Pilzarten wachsen im Bayerischen Wald. Ein Gang ins Gehölz und in die Küchen der Region offenbart bodenständige Delikatessen

Wie Herr Seebauer* mit Vornamen heißt, fällt Markus Schmelmer auch nach längerem Nachdenken nicht ein. Oder wo der Mann wohnt. Oder gar, wie alt er ist. Dieser Herr Seebauer redet nicht viel. Meistens bekommt ihn der Besitzer von Gut Schmelmerhof in St. Englmar gar nicht zu Gesicht. Denn eigentlich kommt Herr Seebauer nur hinten zur Küchentür herein. Und dort geht er auch wieder hinaus. Wortlos. „Herr Seebauer ist etwas scheu“, sagt der Hotelier fast andächtig. „Und er kommt ja auch nur, wenn er was hat.

 
Und wenn Herr Seebauer „was hat“, dann ist es völlig gleichgültig, wie verschroben und geheimnisvoll er ist. „Die Qualität, die er bringt, ist einfach großartig“, sagt Thomas Heinrich, der Sous Chef des Restaurants von Gut Schmelmerhof. Er meint die Pilze, die Herr Seebauer sammelt und verkauft. Während Heinrich für ein Kilo Steinpilze auf dem Markt rund 30 Euro einkalkulieren muss, nimmt Herr Seebauer gerade mal die Hälfte. Und wegen dieses Preis-Leistungs-Verhältnisses nimmt der Koch auch die Schrullen und Unwägbarkeiten des Lieferanten gelassen. „Manchmal kommt er täglich, dann wieder nur alle drei Wochen.“ Aber wenn er am Hintereingang steht, müssen Thomas Heinrich und Chefkoch Alfons Walser spontan reagieren und Pilzgerichte auf die Karte zaubern. Anrufen können sie Herrn Seebauer nicht – seine Telefonnummer hat er nie verraten.

 

„Das sind Schattengeschäfte“, sagt Martin Koller und lächelt. Er betreibt mit seinem Bruder Josef in sechster Generation das Wirtshaus Osl in Bad Kötzting. Und auch er verwendet Pilze von Privatsammlern. Nur Koller hat noch nicht mal einen Namen parat. Und eigentlich will er offiziell auch gar nichts kaufen, denn eine Rechnung mit ausgewiesener Umsatzsteuer und Anschrift stellen die Herren Seebauers natürlich nicht aus. Aber wenn einer der Sammler mit einem Kofferraum voller Steinpilze vorfährt, dann nimmt er ihm halt doch welche ab. Zwei Körbchen für 10 Euro, das ist unschlagbar. Von der Qualität ganz zu schweigen. Frische und qualitativ exzellente Ware ist unabdingbar, „denn die Zeiten, als man den Leuten Dosenchampignons vorsetzen konnte, die sind vorbei“. Falls mal keiner seiner Schattenagenten auftaucht, muss Koller zu den ansässigen „Pilzbaronen“ wie Zwicknagl oder Niklas. „Und das geht dann ins Geld“, sagt er.

 

Pilze stehen fast überall rund um Bad Kötzting auf der Speisekarte. Regionale Küche ist für die meisten Gastronomen hier mehr als ein Lippenbekenntnis und auch keine künstlich kreierte Philosophie, sondern eine über Jahrzehnte gewachsene Selbstverständlichkeit. In diese Gegend kommt selten jemand aus der großen Stadt und macht einen schicken Laden auf. Hoteliers und Küchenchefs sind hier mit glücklichen Rindern, frischen Wiesenkräutern und „Schwammerln“, wie Pilze in Bayern heißen, aufgewachsen. Viele haben den Betrieb von ihren Eltern übernommen.

 

Das Osl gibt es seit 1853. Das Gebäude ist noch älter – es hat seinen Ursprung im 14. Jahrhundert. Innen erwartet den Gast jedoch kein bemüht heimeliges Bauernstüberl. „Es ist alles etwas moderner interpretiert“, sagt Martin Koller und untertreibt ein wenig. Mit dem stilsicheren Interieur, das sie aus dem Holz einer alten Scheune zimmern ließen, mit den lässigen Gerichten von Josef Koller, der einst in München bei Käfer kochte, könnte das Osl auch in einer Metropole bestehen. Muss es aber nicht.

 

Es ist ein frischer Oktobermorgen. Wir wollen dem Geheimnis näherkommen und wandern mit Josef Simmel, einem Fachmann in Sachen Großpilze, Moose und Flechten von der Universität Regensburg, südlich von Bad Kötzting von der Wallfahrtskirche Weißenregen hinunter bis zum Höllensteinsee. Der Nebel klebt über den Wiesen, die Luft riecht erdig und ist so, wie sie es in der Stadt niemals sein kann. Eine solche Luft gibt es nur in Gegenden wie dieser. Das Echte und Unangetastete dieser Region ist quasi zu atmen. Und fast wollen wir glauben, auch die Ruhe hören zu können, was natürlich Unsinn ist – es ist eben einfach nur sehr still.

 

Das Gebiet ist eine gute Pilzgegend für den Otto Normalsammler. Herr Seebauer und die anderen Waldmenschen haben aber wohl ihre eigenen Reviere. Hochgradig geheim, keiner würde je verraten, wo er sucht und wo er mitunter auch findet. Vermeintlicher Konkurrenz wird hier mit paranoidem Argwohn begegnet. Jeder Mitwisser ist einer zu viel, deshalb bleiben Sammler besser unerkannt. „Pilzsucher sind eigen“, sagt Mykologe Simmel und lächelt, „da kann es schon mal zu Handgreiflichkeiten kommen, falls einer den anderen in seinem Gebiet erwischt.“

 

Wir betreten den Gruberwald. Es duftet nach frisch gesägtem Holz. Josef Simmel hat die Witterung aufgenommen. In seinem runden Gesicht sind die Wangen gerötet, sein Blick ist gesenkt, fokussiert aufs Unterholz. „Im gesamten Bayerischen Wald finden sich große Fichtenanpflanzungen, und Fichten sind gut für Steinpilze.“ Der Steinpilz, den jagen sie eben alle. Er ist der absolute Superstar, Simmels Ranglistenerster unter seinen „Top Five“ – gefolgt vom Pfifferling, dem Maronenröhrling und Wiesenchampignon, Rotkappe/Birkenpilz und dem Flockenstieligen Hexenröhrling.

 

An diesem Tag findet Simmel keinen Steinpilz. Warum, das kann auch der Experte nicht erklären. Pilze sind eben unberechenbar. Aber er interessiert sich ja nicht nur für die bekannten Arten, sondern auch für Pilze, die der gewöhnliche Sammler stehen lässt, weil er nicht weiß, ob sie genießbar sind. Zumindest hofft Simmel das, denn bei der Pilzberatung zieht er dann doch immer wieder Hochtoxisches aus den Weidenkörbchen. Und dann hört er immer denselben Satz: „Der sah gar nicht giftig aus.“

 

Josef Simmel geht in die Hocke und zupft vorsichtig einen Pilz heraus, dreht ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, bröckelt ein Stück vom Hut ab, riecht daran. Erst jetzt weiß er: „Ein Gebänderter Milchling – nicht zu empfehlen.“ Manche Arten muss er sogar im Labor untersuchen, um zu wissen, ob sie genießbar sind. Deshalb versteht er nicht, wie unvorsichtig manche Sonntagssammler sind. Simmel deutet auf einen unscheinbaren Pilz mit einem hübschen, goldgelben Hut. „Ein Nadelholzhäubling. Absolut tödlich.“ Und das Verhängnis ist, dass er häufig mit dem essbaren Stockschwämmchen verwechselt wird. Als besondere Pointe der Natur stehen beide oft auch noch einträchtig nebeneinander – oder gar lustig durchmischt in großen Gruppen.

 

Keine 60 Meter weiter stapft Josef Simmel zum ersten Mal ins knöcheltiefe Moos abseits des Wegs. Es fühlt sich an, als laufe man auf einer Latexmatratze. „Da, ein Birnenstäubling. Essbar, wenn er weiß und jung ist.“ Ein paar Schritte weiter entdeckt er einen Wasserfleckigen Rötelritterling, auch er ist essbar, ein mittlerer bis guter Speisepilz. Aber diese Namen? Stinkender Nadelschwindling, Zottiger Schillerporling. Wer um Himmels Willen denkt sich so was nur aus? Bei lang bekannten Arten wie dem Pfifferling sind die Namen seit Jahrhunderten überliefert, für Neuentdeckungen gibt es keine Regel, meist sind ihre Namen angelehnt an die wissenschaftliche Bezeichnung. „Der gebräuchlichste setzt sich durch“, sagt Simmel emotionslos.

 

Und zu entdecken ist noch einiges. Weltweit soll es rund 1,5 Millionen Pilzarten geben. Erforscht seien vielleicht 100 000, schätzt Josef Simmel. Etwa 10 000 gebe es allein in Bayern, davon 3000 bis 4000 im Bayerischen Wald. Simmel kennt sie, denn natürlich war er hier schon unzählige Male. Langweilig wird es dennoch nicht. „Man ist nie fertig“, sagt er, „es können in demselben Gebiet immer neue Arten wachsen.“

 

Wir sind seit dem Betreten des Waldes noch keine 200 Meter weit gekommen, da entdeckt Simmel einen Hallimasch. Wieder so ein Name. Simmel vermutet, er sei abgeleitet von „Heil im Arsch“ – der Volksmund war früher oft derb. Der Genuss des erdigen und bitter schmeckenden Gewächses soll jedenfalls gegen Verdauungsbeschwerden und Hämorrhoiden wirken. „Manche lieben ihn, manche hassen ihn“, sagt der Experte, für einige sei er sogar unverträglich, das hänge ganz von der Körperchemie ab. „Totkochen“ müsse man ihn vor dem Verzehr in jedem Fall. Wie auch immer, der Hallimasch ist ein wunderliches Ding. Wie bei jedem Pilz ist das, was wir gemeinhin als Pilz bezeichnen, ja nur der Fruchtkörper. Das eigentliche Gewächs ist im Boden versteckt. Beim Hallimasch kann das extreme Formen annehmen. Kaum zu glauben, aber das größte Lebewesen der Welt ist ein Hallimasch: Er wächst seit gut 2400 Jahren in Oregon, USA, und ist 880 Hektar groß und etwa 600 Tonnen schwer. Das meiste davon befindet sich unter der Erde.

 

Im Stop-and-go-Rhythmus wandern wir einige Kilometer, und irgendwann wiederholen sich die Pilze nur noch, so dass sich Simmel auch nicht mehr jeden einzelnen genauer ansehen möchte. Der Weg ist wie ein Märchenwald von Wurzeln durchzogen, ein Bächlein rauscht im Hintergrund. Vielleicht versteckt sich Herr Seebauer irgendwo hinter einer Fichte. Wir wissen es nicht, er ist weder zu sehen noch zu hören – kein verräterisches Knacken trübt die vollkommene Stille. Als der Wald endet, ist es noch längst nicht vorbei. An seinem Rand schießen die Pilze – nun ja – eben wie Pilze aus dem Boden. Auf einer lang gestreckten Weide hinunter zum Fluss erspäht Josef Simmel noch ein paar Wiesenchampignons, Maronenröhrlinge und Trompetenpfifferlinge, sodass selbst an diesem unterdurchschnittlichen Pilztag der Korb am Ende proper gefüllt ist.

 

Weder Herrn Seebauer oder einem seiner Konkurrenten noch einem Küchenchef sind wir begegnet. Auch das hätte passieren können, gibt es doch viele Köche, die leidenschaftlich gern Pilze sammeln. Markus Fischer ist so einer. Der Niederbayer hat eine quadratisch-kompakte Statur und ein donnerndes Timbre in der Stimme. Er ist in der Region aufgewachsen, da wird man unweigerlich zum Schwammerlsucher – Fischer selbst macht es seit seinem vierten Lebensjahr. Heute arbeitet er im Restaurant des Adventure-Camps Schnitzmühle nahe Viechtach, dem „ersten Thai-Bay-Restaurant des Planeten“, wie er stolz sagt. In diesem Unikat verbindet er die bayerische mit der thailändischen Küche. Was zu Gerichten führt wie „Schweinebraten thailändisch mit Lauchzwiebeln und Schwammerln“. Letztere hat Fischer nicht selten im Wald hinter dem Restaurant selbst gefunden.

 

Auch die Gebrüder Koller vom Wirtshaus Osl sammeln. Natürlich. „Rotkappen oder Egerlinge, die hol ich selbst, die brauch ich nicht zu kaufen“, sagt Martin Koller. Seine Ausbeute ist ganz ordentlich. Nur an Spezialisten wie Herrn Seebauer kommt er nicht heran. Thai-Bay-Erfinder Markus Fischer erinnert sich, dass einmal einer in seiner Küche stand, der vier Rucksäcke am Körper trug, in denen gut 60 Kilo Pilze waren. Die Ernte eines Tages. Fischer musste sich erst mal setzen. Als ambitionierter Sammler kommt er auf gerade mal 30 Kilo – im Jahr.