November 2012 / ADAC REISEMAGAZIN / Text

Gefeierte Schlägertypen

Die Iren lieben Hurling, diesen eigentümlichen Ballsport mit keltischen Wurzeln. In Kilkenny, der Stadt des irischen Rekordmeisters, verehren sie ihre Spieler sogar wie Heilige

No Fear! Keine Angst! Wenn Achtjährige das brüllen, klingt es etwas komisch, aber immer noch putzig. Sie haben gelernt: Wer sich fürchtet und zurückzieht, der hat schon verloren. Den Kampf um den lederbezogenen Korkball sowieso – und böse verletzen wird er sich womöglich auch. Aber wer eine Sportart ausübt, bei der man damit beginnt, sich einen Helm aufzusetzen und sich einen Hurley, den Eschenholzschläger, mit voller Wucht gegen das Gitter des Helms quasi ins Gesicht zu hauen, der hat das mit der Angst ohnehin schon längst abgehakt.

 

Es ist das Sommercamp der O’Loughlin Gaels in Kilkenny. An die 60 Kinder und Jugendliche tummeln sich hier, altersgerecht auf drei Gruppen aufgeteilt. Clubs wie die O’Loughlin Gaels gibt es unzählige im County zwischen Dublin und Cork. Und alle sehen sie ähnlich aus: schachtelförmige Vereinsheime mit dem eierschalenfarbenen Charme von Fertigbauten und drei oder vier Grünflächen, an deren Enden je ein Tor steht, das nach oben hin verlängert ist. Wer so ein Areal erblickt, mag an einen lokalen Fußballverein denken und begeht schon den ersten Denkfehler. Hier wird definitiv nicht Fußball gespielt. Nie. Derlei Vermutungen würde ein Ire als Beleidigung auffassen. Zumal Fußball der Sport von Engländern ist – und von verweichlichten, überbezahlten Profis.

 

Die Gaels sind einer von 2718 GAA-Clubs, ihr Sport heißt Hurling. Bestenfalls interessiert sie noch Gaelic Football. Die GAA, die Gaelic Athletic Association, ist die mächtigste, mitgliederstärkste Sportorganisation Irlands. Sie wurde 1884 von Michael Cusack gegründet, mit dem Ziel, im damals noch zu Großbritannien gehörenden Land diese uralten Sportarten und damit die patriotische Bewegung zu fördern. Mit Erfolg. Seit 1887 werden die All-Ireland-Titelkämpfe im Hurling und Gaelic Football ausgetragen, Sportarten, die außerhalb der Insel kaum bekannt sind.

 

Was man wiederum in Irland nicht verstehen kann. „In Kilkenny dreht sich alles um Hurling, einfach alles. Mein Großvater war Hurler, mein Vater, mein Sohn. Und meine Enkel werden auch Hurler sein. Ich habe fünf Kinder und die letzten 20 Jahre damit verbracht, sie kreuz und quer zu Spielen durchs ganze County zu chauffieren“, sagt Hurlinglegende Richie Power senior, 55, dessen Sohn einer der Stars des aktuellen Teams ist. Hurling, das neben Eishockey als schnellste Mannschaftssportart der Welt gilt, lässt sich als Mischung aus Hockey und Rugby beschreiben. Wobei die Spieler eigentlich alles können müssen: rennen wie ein Athlet, robust sein wie ein Boxer, elegant schlagen wie ein Tennisspieler und fangen wie ein Torwart.

 

An diesem Morgen im August, das Wetter ist mal wieder unentschlossen zwischen heftigen Schauern und frühherbstlichem Sonnenschein, kracht es auf dem Gelände der Gaels. Die Hurleys schmettern lautstark aneinander, auch das Ploppen, wenn der Ball geschlagen wird, ist zu hören und das „Swooosh“, wenn die Schläger durch die Luft schwingen. Diese Geräusche und auch das Knallen der Slíotars, der Bälle, gegen die Hauswand, wenn die Kinder das Schlagen üben, kennt in Kilkenny jeder. Es sind die Geräusche, die dem Leben hier den Takt geben. Die Stadt bereitet sich vor. Der August steht traditionell im Zeichen des Hurlings, als dessen inoffizielles Epizentrum Kilkenny gilt. Hier sind die Cats zu Hause, das Auswahlteam der Grafschaft Kilkenny, das seit Gründung der GAA am erfolgreichsten war – denn die 33 All-Ireland-Titel der Cats sind unübertroffen.

 

Ein paar hundert Meter weiter südlich schieben sich zur selben Zeit die Touristen durch die Gassen der Innenstadt zum Kilkenny Castle. Mittendrin viele Menschen in schwarz-gelber Sportkleidung. Auch Hausfrauen tragen das Trikot, dessen Farben korrekt Black and Amber heißen, Schwarz und Bernstein. Kinder und Männer sowieso. Girlanden mit gelben und schwarzen Wimpeln winden sich an Fassaden, in den Läden liegen Hurleys, Slíotars und Helme in verschiedenen Größen. Im Viertel The Butts bemalen sie Zäune und schmücken Vorgärten, denn hier hat der Wahnsinn Methode. Regelmäßig vor den großen Endspielen werden ganze Straßenzüge mit Farbe, Wimpeln und Fahnen zugedeckt. Darüber berichten Zeitungen und TV-Sender, deren Reporter sogar aus Dublin anreisen. „Alles, was sich nicht bewegt, malen wir an“, sagt Hausfrau Ann Duggan.

 

Diesmal trifft Kilkenny bereits im Halbfinale auf den Nachbarn Tipperary. Die beiden Clubs standen zuletzt dreimal im Finale – und ausgerechnet 2010 gewann „Tipp“. Ein traumatisches Ereignis, das bis heute kontrovers diskutiert wird. Ein Sieg hätte für Kilkenny „five in a row“ bedeutet, fünf Titel hintereinander, was in 123 Jahren nicht vorgekommen war. Doch die Cats verloren, unerwartet, völlig unnötig, und die Fehler von damals werden immer wieder besprochen, abgewägt und analysiert.

 

Trainer Brian Cody ist angespannt. Seinen Spielern hat er ein Interviewverbot verpasst, die Presse wird vom Training ausgesperrt. Denn auch hier hatten sie in diesem verflixten Finale von 2010 irgendwie gepatzt, als sie Spielzüge im öffentlichen Training einübten und dabei vergaßen, dass auch Tipperary seine Leute vor Ort hatte. Seit Monaten dürfen Codys Jungs keinen Alkohol trinken, es sei denn, der Chef erlaubt es. Diskutiert wird nicht mit ihm, und das wirkt kein bisschen seltsam in Kilkenny. Selbst gestandene Kerle werden klein, wenn sie ihm gegenüberstehen. Warum aber ist das kleine Kilkenny so gut? Cody zuckt mit den Schultern, sagt, dass es hier eine große Tradition gebe und dass jeder zum Hurling wolle. „Und deshalb arbeiten sie hier alle hart, schulen ihre Fähigkeiten, achten auf ihre Fitness.“ Sich selbst erwähnt er nicht. Das ist gar nicht nötig.

 

In Kilkenny sind derzeit bestimmte T-Shirts begehrt. Darauf abgebildet ist Codys Charakterschädel, daneben steht „The Catfather“. Die Anlehnung an den Film „Der Pate“ – „The Godfather“ – ist nicht nur dem Wortspiel geschuldet. Cody hat einen vergleichbaren Status. Der Grund für die fast absurde Verehrung ist der phänomenale Erfolg: Seit 1999 trainiert der 58-Jährige die Cats; in den 13 Finalspielen bis 2011 fanden nur zwei ohne Beteiligung von Kilkenny statt, dabei holten die Cats achtmal den All-Ireland-Titel. In den vergangenen sechs Jahren allein fünfmal. Schon jetzt ist nur noch offen, wann und wo das Denkmal für Brian Cody errichtet wird. Wahrscheinlich stellen sie es auf The Parade, die Straße, die zum Schloss führt. Dorthin, wo derzeit auch der Walk of Fame entsteht, auf dem Kilkennys größte Hurlingstars verewigt werden.

 

Diese plastische Verehrung macht den Irrsinn, der hier so selbstverständlich wirkt, vielleicht am deutlichsten. Fährt man vom Zentrum Kilkennys ein Stück nach Süden, kommt man im Städtchen Thomastown an einem geschmückten Denkmal vorbei. Ein Sohn des Ortes wird hier geehrt, so denkt der unbefangene Besucher, sicher ein Politiker oder ein Schriftsteller, ein Weltmann jedenfalls, so präsent und liebevoll dekoriert ist das kleine Monument mit seinem gut zehn Meter breiten Fundament. Der Geehrte aber ist Ollie Walsh, ein landesweit bekannter Hurler. Natürlich. Daneben ein Täfelchen mit einem Gedicht, das mit den Worten endet: „Er liebte Hurling, seine Heimatgemeinde und die Schwarz-Gelben. Für uns war er Ollie, der König unter den Torwarten, der Größte von allen.“ Die Gänsehaut, die man beim Lesen bekommt, erklärt sich ausnahmsweise nicht durch das Wetter.

 

Auch Eddie Keher, 71, ist so ein Denkmal. Ein höchst lebendiges allerdings. Er gehört zum Team of the Millennium, also zu den besten Hurlern aller Zeiten. Sein markanter Kopf mit dem vorgeschobenen Kinn zierte einst sogar eine 36-Pence-Briefmarke der irischen Post. Seine Zeit waren die Sechziger und die Siebziger.

 

Dass er einer der Besten überhaupt war, würde er selbst niemals erzählen. Aber das entdeckt man schnell, weil in jeder zweiten Kneipe ein Bild von ihm hängt. Mit seiner tiefen Stimme berichtet er von alten Zeiten, und man kann sich gut vorstellen, wie er abends am Kamin sitzt, umringt von seinen Enkeln, und seine Geschichten zum Besten gibt. Wohl auch die von seinem Treffen mit Muhammad Ali im Juli 1972. Seinerzeit hatte der größte Boxer aller Zeiten einen Fight im Croke Park in Dublin. Ein Treffen wurde arrangiert, und Keher erlebte Ali als sehr freundlichen Zeitgenossen, der ihm erzählte, er habe dieses Hurling die Nacht zuvor im Fernsehen gesehen. „Und“, raunte der Schwergewichtsboxer, „das ist ja ein ganz schön harter Sport.“ Keher muss noch heute schmunzeln. Widersprochen hat er nicht.

 

In anderen Sportarten schwärmen pensionierte Legenden gern von alten Zeiten, vom Sportsgeist und der Abwesenheit von Kommerz, doch das hat Keher nicht nötig. Denn es hat sich nichts verändert. Im Gegenteil. Keher kann die heutige Generation nur bewundern. Der Sport ist athletischer geworden und verlangt den jungen Spielern viel mehr ab. Mit Anfang 30 ist in der Regel Schluss. Wenn auch das Umfeld mit Krafträumen, Zeugwarten und medizinischer Betreuung hochgradig professionell wurde, so ist Hurling nach wie vor ein reiner Amateursport. Der 26 Jahre alte Richie Power junior zum Beispiel ist hauptberuflich Vertreter für Sportlernahrung. Er fährt täglich bis sechs Uhr abends in seinem SUV quer durchs County, um halb sieben muss er zum Training – vier-bis fünfmal die Woche. „Wir tun das, weil wir es lieben“, sagt Power junior, „und weil wir gut genug sein wollen, Kilkenny zu vertreten. Da denkt man nicht an die Opfer, die man bringen muss.“

 

Henry Shefflin, der Superstar des Teams, ist in der Bank of Ireland für Landwirtschaftskredite zuständig. Was dazu führt, dass ein Großteil der Farmer von ihm beraten werden will. Ein Kreditvertrag mit Shefflins Unterschrift ist in Kilkenny ein Wertgegenstand. Und auch Brian Cody lebt nicht allein von seinem Halbgottstatus. In erster Linie ist er Rektor der Grundschule St. Patrick’s De La Salle in Kilkenny. Andere Sportler sind Soldaten, Polizisten, viele auch Studenten. Und kaum einer möchte, dass sich das ändert. Eddie Keher erklärt, warum: „Weil es eine andere Motivation geben muss. Nicht das Geld. Sie tun das für ihre Leute. Und die Freude am Spiel. Ich bin froh, dass mein Sport Hurling war und dass er nicht professionell ist.“ Und sie alle wissen, dass sie etwas bekommen, was ihnen kein Profigehalt bieten kann: echte und dauerhafte Freundschaften und die lebenslange Zuneigung der Menschen im ganzen County. „Ich muss selten für mein Pint oder den Kaffee bezahlen, sie laden mich immer ein“, sagt Richie Power senior und lacht.

 

Nicht allen gefällt es jedoch, dass alle Einnahmen direkt nach Dublin an die GAA fließen. Es wird geraunt, dass sich einige der Vorstandsherren die eine oder andere Annehmlichkeit finanzierten. Sichtbares Zeichen des Wohlstands ist der kapitale Croke Park in Dublin, das Stadion der GAA. Es ist mit 82 300 Plätzen das viertgrößte in Europa. Und das, obwohl Fußball absolut unerwünscht ist. Wie ein Ufo ragt es zwischen den zweigeschossigen, rostroten Backsteinhäuschen im etwas abgeschabten Dubliner Norden hervor, wo die Straßen Kraterlandschaften ähneln und in den gepflasterten Vorgärten Müll liegt und Fahrräder vor sich hin rosten. Der Croke Park ist mit allem ausgestattet, was ein Stadion im 21. Jahrhundert braucht. Inklusive eines Museums, in dem auf zwei Etagen Besucher in Bild und Ton alles über Hurling und Gaelic Football erfahren. Besser geht es nicht. Aber der Hauptteil der Einnahmen fließt laut GAA direkt an die Basis. So besitzt fast jeder Club immerhin ein Sportheim und gepflegte Plätze.

 

Gut beschäftigt ist in diesen Tagen vor dem Match des Jahres Jim Croke, 38. Er entspricht dem Bild, das man von einem typischen Iren hat: kompakter Körperbau, raue Stimme, urwüchsig. Oben rechts fehlt ein Eckzahn. Er ist der wohl größte Fan der Cats und Chef eines skurrilen Clubs – des K-Teams. Mit ihrem schwarz-gelben Van fahren die Fans durchs Revier und überziehen Brücken und Bordsteine mit bunten Farbanstrichen – eine Spaßguerilla, die hier keinen stört. Auch James O’Keeffe, 31, hat viel zu tun. Er ist zwar Schreiner, aber sein Handwerk ist eher eindimensional – er schnitzt und repariert ausschließlich Hurleys. Obwohl ein guter Hurley nur rund 25 Euro kostet, lassen die Stars ihre Schläger lieber reparieren, wenn sie im Zweikampf zerborsten sind. Mit Holzleim und Schraubzwingen ist das gut machbar. „Die Jungs mögen ihre Hurls“, sagt O’Keeffe lakonisch.

 

Für alle haben sich Anspannung und Mühe letztlich jedoch gelohnt. Der Halbfinalsonntag im August wird zum Triumph. Nach schwacher erster Hälfte überrollen die Cats das hilflose Tipp zum Endstand von 36 : 18. Das heimliche Endspiel ist gewonnen, die siebte Finalteilnahme in Folge geschafft. Noch ein neuer Rekord. Beim Saisonabschluss setzt sich Kilkenny schließlich gegen Galway durch und erringt so seinen 34. All-Ireland-Titel. Am Montag danach fährt das Team im roten Doppeldeckerbus, begleitet von Blaskapelle und Dudelsackpfeifern, über die John’s Bridge durch das Spalier Tausender Fans in die Stadt ein. Alles wie gehabt. Kilkenny ist und bleibt die Hauptstadt des Hurlings.