Januar 2014 / ADAC Reisemagazin / Text

Kinder der Kulisse

Die Barrandov Studios im Südwesten von Prag sind eines der traditionsreichsten Filmateliers Europas. Dort wurden Stars groß, die das tschechische Kino in die Welt getragen haben.

Der Weg ins 15. Jahrhundert ist schnell gegangen. Er führt hinauf über grasbüschelgesäumte Feldwege, in die der Regen Pfützen gegraben hat. Das 15. Jahrhundert wurde aus viel Sperrholz gezimmert. Recht schmucklos sieht das von hinten aus. Wie eine Streichholzburg oder wie der Versuch, etwas zum Einsturz Verurteiltes doch noch zu retten. Und davor liegen drei Kanonen im Matsch. Drinnen ist der Petersplatz. Gleich hinter der nächsten Ecke geht es durch die sumpfigen Gassen eines ärmlichen Renaissance-Florenz. Ein Blick in die Höhe zerstört diese Illusion schnell wieder, denn oberhalb der ersten Etage endet das 15. Jahrhundert. Es sind eben Filmkulissen.

 

Auf den Hügeln von Barrandov, dem ruhigen Stadtteil südwestlich der touristengeplagten Prager Innenstadt, haben die Handwerker der Filmstudios das Set für die Fernsehserie „Borgia“ aufgebaut, die wohl größte europäische Serienproduktion aller Zeiten. Für die Studios ist das kein großer Umstand, und auch wenn Rom nicht an einem Tag gebaut wurde, so ging es doch fix: 200 Leute waren sieben Wochen beschäftigt. Die Studios sind für vieles bekannt und geschätzt – für die handwerklichen Fähigkeiten ihrer Schreiner und Stukkateure etwa. Und so fragil das alles wirkt, es steht schon seit drei Wintern. Die zweite Staffel lief jüngst im ZDF, eine dritte ist geplant.
Das Gelände umfasst knapp 40 Hektar. Die Hälfte davon ist bebaut, unter anderem mit Ateliers, die bis zu mehr als 4000 Quadratmeter Platz bieten, mit Ton- und Synchronstudios sowie Werkstätten von Schlossern, Schreinern, Schneidern und Stukkateuren. Der Rest ist Außengelände und bestens geeignet, um mal eben ein bisschen Rom oder London zu errichten. So ist das tschechische Hollywood, gegründet in den Dreißigerjahren, inzwischen eine moderne, kompakte Filmstadt, in der sich zu Fuß alles erreichen lässt, was ein Produzent oder Regisseur braucht.

 

Neben den Babelsberger und den Münchner Bavaria Studios ist Barrandov nicht nur das dritte große „B“, sondern ein Zentrum der europäischen Kinoindustrie. Gut 2500 Filme wurden hier gedreht, neben fast allen heimischen Produktionen auch viele deutsche, französische oder spanische. Und sogar die Amerikaner schauten vorbei und bastelten an Oscar-Prämiertem wie „Amadeus“ oder Kassenschlagern wie „Mission: Impossible“, der „Bourne Identität“ oder „Casino Royale“. Ebenso wichtig für alle um die 40: Barrandov ist der Ort, an dem jene Serien entstanden, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Kinder rührten und die heute wohl jeder aus dieser Generation zitieren kann. „Pan Tau“ etwa. Oder „Die „Märchenbraut“. – „Luzie, der Schrecken der Straße.“ – „Die Besucher.“ „Der fliegende Ferdinand.“

 

Nähert er sich den Studios, so erwartet den Besucher am Ende der Straße Lumiérú ein Zweckbau mit zwei Seitenflügeln – sie wirken wie offene Arme. Vom Stil her nicht unschick, erinnert an Bauhaus. Aber einladend ist es nicht, trotz der Geranien am Pförtnerhäuschen, alles zu grau und abblätternd. Errichtet wurde das Haupthaus bereits in den Dreißigerjahren.

 

Irgendwann, wohl 1950, stand Václav Vorlíček in diesem Bau, wo es heute noch nach Sozialismus und Schulhaus aussieht und in den Gängen nach Schweinebraten riecht, da der Kantinengeruch alles durch dringt. Vorlíček hatte weiche Knie, als er fragte, ob sie etwas für ihn hätten, irgendwas, einen Job beim Film. Nein, nein, sagte der Pförtner, da sei nichts vakant. Als plötzlich sein Telefon klingelte. Nach dem Telefonat brauchte man doch jemanden, und Vorlíček war beim Film. So begann seine Karriere als Regisseur, in der er den Kindern der Welt Filme wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder Serien wie „Die Märchenbraut“ mit der niedlichen Prinzessin Arabella und dem irren Zauberer Rumburak schenkte.

 

Jan Partis ist 65, und färbte er sich seine Haare, dann würde ihm niemand sein Alter abnehmen. Seit Mai 1970 arbeitet er in der Werkstatt gegenüber jenem Studioblock, den einst die Nazis monumental aufs Gelände stellten, um ihre Propagandafilme zu produzieren. Die Sicht ist immer etwas milchig, denn Partis arbeitet als Porzellanbildhauer – weißer Staub ist allgegenwärtig und überzuckert alles. Auch ihn und seine grauen Haare. „Ich gehöre zum Inventar“, sagt er. Einen wie ihn haben sie hier gern, steht er doch für einen Wettbewerbsvorteil: die Liebe zum Handwerk mit Zeit und tschechischer Tradition. „Aber nach 1990 hat sich einiges geändert“, sagt er. Viele seien fortgegangen, in den Westen, hin zum Geld. Es gebe außer ihm nur noch einen Festangestellten in der Abteilung, in der sich alles um Gips und Stuck dreht. Und die anderen? „Das sind gute Leute, aber die machen ihre Arbeit und gehen nach Hause.“ Aber Barrandov, wie er es kennengelernt hat, das war immer mehr. Die Hingabe, die Tradition und der Stolz, hier arbeiten zu dürfen. 40 Jahre lang, in denen er mehr in den Studios als bei seiner Frau gewesen sei, wie er lächelnd sagt. Und auch wenn seine Arbeit selten das Ende der Dreharbeiten überlebt, ist er stolz darauf. Für „Amadeus“ hat er einen Kachelofen gebaut, für „Aschenbrödel“ eine Brosche gebastelt und für „Die Märchenbraut“ eine Schatzkiste.

 

Handwerk bedeutet in Barrandov auch Schneiderei. Martin Růžička sagt, er sei „sehr alt“, dabei ist er erst 61. Seit 1972 arbeitet er hier und hat ähnlich viel erlebt wie Jan Partis. Mit der Brille, dem Schnauzbart und seiner Erklärstimme könnte er eine tschechische Version von Peter Lustig abgeben. Aber Růžička ist in Barrandov Herr über gut 360000 Kostüme und Requisiten, ein Trödler der besonderen Art. „Wir verleihen die Kostüme in ganz Europa, besonders stark sind wir in Barock, Renaissance und Rokoko“, sagt er. Und natürlich in handwerklicher Qualität.

 

Die zwei schachtelartigen Gebäude, in denen diese besonderen Schätze lagern, sind noch düsterer als das Haupthaus, mit graubraunem Putz und rußigen Glasbausteinen, die die Sonne nur sehr widerwillig durchlassen. Drinnen brennt Neonlicht. In einem Raum im ersten Stock sind die Kostüme des Films „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ausgestellt, dazu ein paar Szenenbilder und Anekdoten auf Schautafeln. „Showroom“ heißt das Zimmer leicht beschönigend, denn es hat den Charakter einer Abstellkammer. Es könnte alles glamouröser aufbereitet werden, aber noch gibt es nicht einmal regelmäßige Führungen für Besucher. Es werde daran gearbeitet, sagt Marketingleiter Jan Hlubek etwas verlegen, aber das könne wohl noch dauern. Bis dahin organisiert er Führungen auf Anfrage „für Gruppen oder Grundschulen“. Was ja auch Charme hat.

 

Nach seinem unkonventionellen Einstieg in die Branche stand Václav Vorlíček in den Fünfzigerjahren vor einer Entscheidung. Es gab 50 Regisseure für 25 bis 30 Filme, wovon acht für Kinder sein mussten – Planwirtschaft eben. Diese Projekte aber wollte keiner übernehmen, also griff Vorlíček zu, drehte Kinderfilme, auch Komödien. Und entwickelte da schon den leicht naiven, surrealen Charme, der später auch „Pan Tau“ und Co auszeichnete.

 

Aber erst das deutsche Fernsehen ließ die tschechischen Märchen zum kontinentalen Erfolg werden. Insbesondere dank eines gewissen Gert Müntefering, der seinerzeit das Kinderfernsehen im WDR betreute. Er liebte den Humor von Vorlíček und seinen Mitarbeitern. „Wir alle wohnten in Prag im Umkreis von einem Kilometer. Und wenn einer einen verrückten Einfall hatte, suchte der andere einen noch schrägeren. Wir haben uns kreativ regelrecht hochgeschaukelt“, erinnert sich Vorlíček. Mit WDR-Mann Müntefering besprach er die Drehbücher der „Märchenbraut“-Serie. Für jede Produktion reiste er vier- oder fünfmal nach Köln. Viel öfter, als es nötig war. Doch Konferenzen beim Westfernsehen waren ein guter Vorwand, „in den Westen zu reisen und Geschenke einzukaufen“.
Die Devisen waren ein Grund, warum in Barrandov für den Kapitalismus produziert werden durfte. „Auch den Sozialisten bedeutete Geld etwas“, sagt Schauspieler Jiří Lábus und lacht. Die Rolle seines Lebens hatte er in der „Märchenbraut“, als er mit echten Haaren und angeklebtem Bart den Zauberer Rumburak spielte. „Es war eine Zeit, in der wirklich alles passte“, sagt Lábus, „mit tollen Kollegen, einem genialen Drehbuch und den Kostümen.“ Für Letztere war Theodor Pištĕk verantwortlich, der später sogar einen Oscar für seine Arbeit in „Amadeus“ bekam. Noch heute glänzen die Augen des mittlerweile 63 Jahre alten Lábus, wenn er von der „magnetischen Wirkung“ der „Märchenbraut“ spricht, die die Zuschauer förmlich hineinziehe.

 

„Irrwitzige Ideen haben immer Bestand“, sagt Regisseur Vorlíček, und es scheint, als grinse der Mann mit dem Gehstock in der rechten und der Zigarette in der linken Hand innerlich. Darüber, wie er die Sozialisten ausschmierte oder wie er diese furiose Geschichte um die Vermischung von Märchen und realer Welt ersann. 2010 wurde er 80 Jahre alt. Ein deutscher Radiosender gratulierte ausführlich und erhielt etliche Leserbriefe.

 

Als Vorlíček die Post aus Deutschland in die Hände bekam, rollten bei ihm die Tränen. „Das ist wirklich die schönste Anerkennung.“