März 2014 / ADAC REISEMAGAZIN / Text

Die Schneidemeister

Das Schweizer Taschenmesser steht für die Alpenrepublik wie Matterhorn, Schokolade und Käse. 1890 erfunden, wurde es von der Firma Victorinox in die Welt gebracht. Und in den Weltraum. Eine Werksbesichtigung in Ibach

Für Admiral Gene Wheatley ist es eine unbehagliche Situation. Er hat zwei Optionen, beide würde er nicht überleben. Der Pilot der U.S. Air Force befindet sich mit seinem Jet über dem Atlantik, umhüllt von schwarzer Nacht. Als er merkt, dass die Atemmaske nicht funktioniert, weiß er: Ohne sie wird er ersticken. Wenn er tiefer fliegt, wo das Atmen ohne Maske möglich wäre, verbraucht er zu viel Treibstoff und stürzt irgendwann ab. Seine einzige Chance ist es, die Maske irgendwie zu reparieren. Ohne Werkzeug, im Flug, in der Nacht. Es gelingt. Mit seinem Taschenmesser, das er seit 23 Jahren bei sich trägt. Ein rotes Messer aus der Schweiz, hergestellt in Ibach im Kanton Schwyz. Sein Lebensretter.

 

Briefe mit solchen Geschichten erreichen Hans Schorno regelmäßig. Der Medienverantwortliche der Victorinox AG hat sie alle in roten Leitz-Ordnern abgeheftet, akkurat beschriftet. Vom kanadischen Arzt, der in Uganda aus Mangel an brauchbarem medizinischem Gerät damit operierte. Von dessen indischem Kollegen, der in den Siebzigern auf einem Inlandsflug einen Luftröhrenschnitt bei einem Kind durchführte, das sich an einem Bonbon verschluckt hatte, und es so vor dem Ersticken bewahrte. Vom Hobbypiloten, der sich aus einem abgestürzten brennenden Sportflugzeug befreite, oder von den Teilnehmern einer Nordpolexpedition, die bei –50 Grad in arge Schwierigkeiten geraten waren.

 

Auch katalogisiert hat Schorno Tausende Presseberichte und einige hundert Werbeanzeigen, die das berühmte Sackmesser (wie es in der Schweiz heißt) abbilden. Denn wann immer ein Unternehmen irgendwo auf der Welt ein neues Produkt für Vielseitigkeit, Einfallsreichtum und Zuverlässigkeit rühmen will, dann kommt gern mal das Schweizer Messer ins Bild. Bei Lufthansa, Microsoft, American Express und vielen anderen.

 

Victorinox stellt das Original her: das Taschenmesser mit der meist roten Schale, auf der ein Schild mit Schweizerkreuz prangt. Ein Werkzeug, das Mount-Everest-Expeditionen rettete und Astronauten im Weltall half, ist es doch seit 1978 fester Ausrüstungsbestandteil im Spaceshuttle. Ein Victorinox-Messer ist als Beispiel für „Gutes Design“ im NewYorker Museum of Modern Art ausgestellt, die Armeen der Schweiz, Deutschlands und weiterer 15 Nationen nutzen es. Es ist das Symbol für die Schweiz, mehr noch als das Matterhorn und der Käse. Eine Legende.

 

Hans Schorno weiß das. „Das ist einzigartig“, sagt er. Schorno ist ein lustiger Mann mit einem bebenden Lachen. Wenn er sagt: „Wir sind hier nicht im Paradies“, er dann eine Pause macht, um zu ergänzen: „Aber wir sind nicht weit weg davon“, und noch ein rollendes „Hohoho!“ folgen lässt – dann versteht man ihn sofort. Ein Tag in Ibach/Schwyz genügt, um es ihm sofort zu glauben. Inmitten einer Zeit, in der es so viel um Globalisierung und Gewinnoptimierung geht, machen sie hier vieles anders. Und damit alles richtig.

 

Das Paradies wird geleitet von Carl Elsener, 55, dem Urenkel des Firmengründers und Messerschmieds Karl Elsener, der das weltberühmte Schweizer Messer im Jahr 1890 ersonnen hatte. Der Junior ist hager, trägt eine Beamtenfrisur und ein kariertes Oberhemd. Stellte man ihn zwischen seine Mitarbeiter, kaum jemand würde erraten, wer von ihnen der Chef einer weltbekannten Marke ist. Zur Arbeit kommt er mit seinem Peugeot 307, sein Büro ist ein Ausweis gelebter Bescheidenheit. Nichts ist hier neu. Der Schreibtisch steht in der Ecke an die Wand gedrückt, ist holzfurniert und abgewetzt. Beim braunen Drehstuhl schimmert der Polsterschaumstoff durch. Das modernste Utensil ist noch der gut zehn Jahre alte Computer, klobiger Röhrenmonitor, schwarze Tastatur. Daneben staubige Plastikablagen und Stiftehalter im Braun der Achtzigerjahre. Ein Casio-Taschenrechner. Ein Stempelkissen. „Gut zuhören. Scharf nachdenken. Lang nichts sagen“, steht auf einem handbeschriebenen DIN-A 4-Blatt an der Pinnwand.

 

Die elsenersche Bescheidenheit führte zu einem erstaunlichen Schritt: Im Jahr 2000 verzichteten Carl Elsener und seine zehn Geschwister geschlossen auf den finanziellen Anteil am Unternehmen. Für immer. Die Victorinox AG gehört seither zwei Stiftungen, und alle Gewinne fließen wieder der Firma und ihren Mitarbeitern zu. Carl Elsener und seine Familie leben von einem Gehalt und dem, was sie zuvor gespart und angelegt hatten. Der einzige Luxus ist die Ferienwohnung im Engadin. Aber dem Unternehmen geht es blendend. Wer hier arbeitet, der tut das sein Leben lang. Die Gehälter liegen über Tarif, der Mutterschutz ist länger als anderswo, und die Angestelltensparkasse zahlt üppige 1,25 Prozent Zinsen. Und mehrmals täglich werden die Mitarbeiter zur Gymnastik gebeten. Mehr als 900 sind hier tätig, weitere 940 in aller Welt.

 

Sein Messer hat Elsener immer dabei. Stolz berichtet er, wie er neulich in einem Hotelzimmer die Jalousie selbst habe richten können. Es ist eine Symbiose, die Elsener mit seinem Produkt lebt, und das tun hier alle. Wenn er sagt, dass „schon die Menschen in der Steinzeit das Bedürfnis hatten, ein Taschenwerkzeug mit sich zu führen“, dann ist das zwar weit ausgeholt, aber eben auch nicht falsch. „Dieses Messer ist ein lebenslanger Begleiter“, weiß er.

 

Etwa 300 Meter Luftlinie von der heutigen Konzernzentrale entfernt steht am Tobelbach ein altes Fachwerkhaus. Dort richtete sich Karl Elsener  seine erste Werkstatt ein. Seither ist man immer in Sichtweite dieses Ursprungs geblieben. Und daran wird sich wohl auch in den nächsten Jahren nichts ändern. Denn auch heute wird der Stahl nicht in Indien gestanzt oder die Messer in China montiert – das alles passiert hier in Ibach. Angeliefert werden lediglich das Kunststoffgranulat für die Schale und der Stahl aus Deutschland oder Frankreich.

 

Die mannshohen Stahlrollen nimmt Reinhard Fuchs in Empfang. Der ist 59 Jahre alt, und wie bei jedem Mitarbeiter hier gibt es eine zweite Zahl – die der Betriebszugehörigkeit. Bei ihm sind es 45 Jahre. Fuchs ist Abteilungsleiter der Stanzerei, verantwortlich für den Stahl der Messer und den ersten Arbeitsschritt, das Ausstanzen der Klingen. Er ist einer von nur fünf Personen, die genau wissen, wie der Stahl zusammengesetzt ist. Und es geht immer um die richtige Mischung aus „Trägheit, Härte und Rostbeständigkeit“, wie Fuchs erzählt. „Wir sagen dem Stahlwerk, wie gekocht wird.“

 

Daran wird hier seit mehr als 100 Jahren getüftelt, denn jede Messerkomponente hat andere Eigenschaften. „Der Schraubenzieher muss stabil sein gegen Verdrehen, aber auch nicht so hart, dass er bricht; die Messerklinge sollte dagegen sehr, sehr hart sein“, erzählt Reinhard Fuchs. Eine Technikabteilung, ein Stahl- und ein Kunststofflabor arbeiten an solchen Feinheiten. Immer wird überlegt, probiert und verbessert; 3-D-Animationen am Computer helfen genauso wie das Wissen und das Gefühl erfahrener Handwerker. „Das hört nie auf“, sagt Carl Elsener, „wir müssen jeden Tag dran sein.“ Sobald man sich über eine Mischung einig ist, wird der Stahl geordert. Weil aber unter 100 Tonnen nichts geht – das entspricht etwa einer halben Million Messerklingen –, sollte die Legierung schon gut berechnet sein.

 

Die ausgestanzten Klingen und Teile werden geschliffen und bei mehr als 1000 Grad gehärtet, damit sich das Material verdichtet. Manchmal wird für ein marginales Teil ein enormer Aufwand betrieben. Zum Beispiel bei der Pinzette: hier gebogen, da gebogen, hier geschliffen, dort geschliffen, dann noch ein Kunststoffteilchen dran. Alles ein eigener Arbeitsschritt, oft mit einem speziellen Gerät. An all diesen Maschinen arbeiten, umwabert vom ratternden Stanzlärm und dem Geruch von Gummi, Lösungsmitteln und Maschinenöl, Männer wie Josef (28 Jahre im Betrieb) oder Christian (34 Jahre dabei) oder Frauen wie Marinda (seit 22 Jahren). Sie produzieren und verarbeiten bis zu 20 Millionen Einzelteile im Monat.

 

Hinter dem Lager für die Einzelteile gelangt man zur Handmontage. Immer noch ein wichtiger Faktor, denn Kleinserien und Sonderanfertigungen machen viel Umsatz. Ein passendes Modell gibt es bei mehr als 360 Varianten ohnehin für jeden. Für den Golfspieler genauso wie für den Pferdezüchter. Für Baumschulen wird ein Rindenlöser aus Messing beigefügt, für Feuerwehrleute eine Funktion zum Zertrümmern von Windschutzscheiben. Die meisten Messer aber sind Konfektion und werden maschinell zusammengesetzt, je nach Größe in „4- oder 8-Lagen-Automaten“, wie sie hier genannt werden. Am Ende einer Produktionsstraße, in der Lage auf Lage geschichtet wird, steht jedes Mal das Anbringen des Schlüsselrings. Mit dem „Ringli-Automaten“. Insgesamt werden 28000 Sackmesser,   32000 Taschenwerkzeuge und an die 60000 Berufs- und Haushaltsmesser hergestellt. An einem Tag.

 

Ein einziges Mal wurde es unbequem im Paradies. Grund waren die Terroranschläge des 11. September 2001. „Da hatten wir gewissermaßen über Nacht einen Umsatzeinbruch von 30 Prozent“, erzählt Elsener. Auf den ersten Blick mag das verwirren, denn was hat ein alteingesessenes Schweizer Handwerksunternehmen mit Manhattan oder al-Qaida zu tun? Beim zweiten Hinsehen erfährt man, dass in den USA die meisten Taschenmesser entweder Werbegeschenke für Geschäftsleute (und die reisen dort mit dem Flugzeug) waren oder im Duty-free-Shop fürs Handgepäck verkauft wurden. Und plötzlich war das verboten. Was tun?

 

Wo andere Unternehmen mit Entlassungen, Kurzarbeit oder ähnlichen betriebswirtschaftlichen Hebeln reagiert hätten, wurde man in Ibach kreativ. Urlaubstage wurden vorgezogen, Überstunden abgebaut und Mitarbeiter in anderen Bereichen eingesetzt. Und schließlich, als alles ausgeschöpft schien, da telefonierte Carl Elsener die Betriebe in der Gegend ab, ob sie nicht Arbeitskräfte „ausleihen“ wollten. Viele wollten, und so wurden in den folgenden Monaten mehr als 90 Mitarbeiter täglich mit dem Bus in der Schmiedgasse 57 in Ibach abgeholt und in der ganzen Gegend verteilt. Entlassen wurde keiner.

 

Dass sich das Unternehmen langfristig erholte, war allerdings der Ausweitung der Produktpalette zu verdanken. Heute gibt es Koffer, Funktionsbekleidung oder Parfum mit dem vertrauten Emblem. Den Anfang dieser sinnvollen Erweiterung hatte 1989 die Armbanduhr gemacht. Heute sorgen die Taschen- und Haushaltsmesser nurmehr für gut die Hälfte des Umsatzes. Eine solide Hälfte: Seit im Jahr 2005 der einzige Mitbewerber (Wenger aus Delémont) übernommen wurde, gibt es nicht mal mehr Konkurrenz. Lediglich der amerikanische Leatherman sei „auch ein sehr gutes Produkt“, wie Carl Elsener so gütig wie gelassen sagt.

 

Hans Schorno (22 Jahre im Betrieb) blättert derweil in einem anderen Leitz-Ordner herum. Es liegen viele auf dem Tisch und noch weitere auf einem Wägelchen, das seine Assistentin hereingeschoben hat. „Jahaa, hier, der Papst mit Herrn Elsener … und da, der Schwarzenegger. Aaah, Al Gore. Mr. Bean. Hohoho!“ Ein Tag im Paradies geht standesgemäß fröhlich zu Ende.