November 2018 / ZEIT ONLINE & ADAC Reisemagazin / Text

Im Großen und Ganzen

Ein Werksbesuch auf der Meyer-Werft zeigt die letzten Handgriffe an der Aida Nova, dem größten Kreuzfahrtschiff, das die Papenburger je gebaut haben.

Alles an diesem Ort ist groß. Riesig. Fern jeder Vorstellung. Deutlich wird das, wenn man den Werkzeugkasten sieht, aus dem sich die Arbeiter mit ihren gelben Helmen und den öligen Blaumännern bedienen. Der Kasten ist ein Container, so groß wie eine Garage. Die Halle des Baudocks II ist 75 Meter hoch, 504 Meter lang und 125 Meter breit, es ist das größte Trockendock der Welt. Viele Arbeiter sind mit Fahrrädern unterwegs. Der einzelne Mensch wird hier zur Ameise.

 

Die Dimensionen überraschen nicht, bedenkt man, dass hier die größten Dinge der Welt entstehen, die am Stück ausgeliefert werden: Kreuzfahrtschiffe. Die Meyer-Werft im ansonsten ereignisarmen Städtchen Papenburg baut diese seit 1985 und wurde damit ein Global Player auf einem boomenden Markt. Nur die italienische Werft Fincantieri mit Haupsitz in Triest ist größer – mit den beiden kann lediglich STX France in St-Nazaire mithalten.

 

Im August 2018 ist man einigermaßen gelassen. Viel schiefgehen kann jetzt nicht mehr. In Kürze wird ein Schiff das Baudock verlassen, erst ins Außenbecken der Werft und schließlich ins Meer fahren. Dort finden dann die letzten Montagen und Tests statt, bevor es ab dem 2. Dezember auf Jungfernfahrt geht. Das Schiff, es ist die Aida Nova, wird dann 6600 Passagiere aufnehmen und mit einer Länge von 337 Metern sowie einer Breite von 42 Metern nicht weniger als das größte Schiff sein, das je in Papenburg gebaut wurde.

 

Die Azipods werden montiert. Azipods werden seit einigen Jahren zum Antrieb eingesetzt. Sie sehen aus wie zwei überdimensionale Außenbordmotoren oder Mini-U-Boote und sind gegenüber dem vormaligen Antriebssystem mit Ruder und Wellenleitung sparsamer und besser steuerbar. Sie hängen wie Gondeln unter dem Rumpf und können um 360 Grad gedreht werden.

 

Obwohl weiter oben reichlich Tageslicht in die Halle strömt, ist es unten, knapp unter dem Heck der Aida Nova, dunkel und feucht wie in einer Tropfsteinhöhle. Schiffsbaumeister Bernd Lübbers ist mit seinem sieben Mann starken Team seit sechs Uhr morgens dabei, die fünf Flunken des rechten Azipods zu montieren – auf der Steuerbordseite, wie Lübbers natürlich sagt. Macht insgesamt zehn Propellerblätter bei zwei Azipods. Jedes einzelne so groß wie ein Kleinwagen, und der Schliff des ­Metalls erinnert an die Haut eines Fisches. Allerdings in Gold. „Die fünf sind jetzt vormontiert, da werden noch die Bolzen reingedreht und gut handfest angezogen“, erklär­t Lübbers. Danach müssen die faustgroßen Bolzen natürlich noch richtig angezogen werden, per Hydraulik-Werkzeug.

 

Die Aida Nova ist ein Prototyp, so ein Schiff gab es noch nie. Knapp 40 Monate dauert es, einen Prototypen zu planen und zu bauen, Nachbauten bestehender Schiffe brauchen etwa 25 Monate. „Davon sind etwa 70 Prozent Planungs- und 30 Prozent Bauzeit“, weiß Stephan Schmees, der Chef des Projektmanagements und damit Herr über alle Kreuzfahrtschiffsbauten der Meyer-Werft. Allerdings „überlappend“, wie Schmees sagt. Also während hier noch geplant wird, wird dort schon gebaut. Im Frühjahr 2015 begann das Leben der Aida Nova. Der sogenannte Stahlschnitt, der Baubeginn, war im Februar 2017. In der Zwischenzeit planen und rechnen knapp 500 Ingenieure bei Meyer. Insgesamt können in den zwei Baudocks mehrere Schiffe entstehen, da zunächst kleinere Module gefertigt werden, die man dann zu einem Schiff zusammenfügt.

 

Der Bau eines Kreuzfahrtschiffs ist eine logistische Meisterleistung, denn Komponenten dieser Größe werden gebaut oder geliefert, wenn sie gebraucht werden. „Wir haben viele Millionen Teile pro Schiff, und die müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Unsere Hauptkompetenz ist es, das zu managen“, sagt Stephan Schmees mit pragmatischem Stolz. Nur rund 30 Prozent stellt die Meyer-Werft selbst her, der Rest wird zugeliefert. Das nötige Netzwerk haben sich die Papenburger über die Jahrzehnte aufgebaut, viele Zulieferer siedelten sich eigens an.

 

Ein Schiff dieser Größe besteht im Rohbau vor allem aus Stahl und Leitungen. Überall hängen Rohre und Kabel herum, die irgendwann mit anderen Rohren und Kabeln verbunden werden. Dabei keine Fehler zu machen erscheint als unlösbare Kniffelei. Dann die Kabinen. Mehr als 3000 müssen eingebaut werden. Sie werden meist komplett ausgestattet angeliefert und wie Legosteine zusammengesteckt. So funktioniert das im Prinzip auch mit allen anderen Modulen und Blöcken, die entweder nebenan auf der Werft, im Umland oder auf der Meyer gehörenden Neptun-Werft in Rostock gefertigt werden.

 

Basis für das logistische Orchester ist eine Software. Das Know-how aus mehr als 200 Jahren Schiffsbau vereinigt sich in SEP, dem „Schiffsentwicklungsprogramm“ – einer Software, die Schmees „unser Gebetbuch“ nennt. Streng geheim natürlich. Hier wurden vor einigen Jahren alle Programme und Dateien gebündelt und harmonisiert. Ein Termin- und Ablaufplan quasi, ein riesiger natürlich, wie alles hier.

 

Die Azipods wurden von Hersteller ABB Marine aus Finnland „just in time“ geliefert. Insgesamt elf Meilensteine gab und gibt es während der ganzen Zeit. Auch die Festlegung auf einen Stahl, die Inbetriebnahme, die Überführung, die Ablieferung – alles Meilensteine auf dem Weg von der Idee zur schwimmenden Kleinstadt. Bei welchem davon Schmees am nervösesten ist, kann er gar nicht sagen. Denn die Zeit drängt immer.

 

Herausforderungen brachte die Aida Nova so einige. Schon allein die Größe, die selbst das riesige Baudock II wahrlich ausreizte, aber auch der neue Antrieb mit Flüssigerdgas (LNG), der hier weltweit erstmals eingebaut wurde. Rund zehn Jahre lang arbeiteten die Techniker der Meyer-Werft daran, „endlich ein Schiff mit LNG bauen zu dürfen“, wie es Schmees ausdrückt. Aber erst, als es die Carnival Corporation (Besitzer von Aida Cruises) wagte, als erste Reederei so ein Schiff zu ordern, konnten die Papenburger ihr Wissen umsetzen. Ein Wagnis, weil es neu ist und auch die Infrastruktur noch ausgebaut werden muss. Dennoch war es eine Art Zeitenwende, denn nach der Aida Nova wurden drei Viertel der neuen Schiffe mit LNG-Antrieb bestellt. Und auch wenn dieser deutlich umweltverträglicher ist als Diesel oder Schweröl, ist der CO2-Ausstoß immer noch groß. Stephan Schmees hofft deshalb auf die nächste Evolutionsstufe, die Brennstoffzelle.

 

Jetzt, da an der Aida Nova die Azipods montiert sind und laufen, steht dem Schiff noch eine entscheidende Reise bevor. Denn Papenburg liegt nicht am Meer. Nicht mal nah dran, sondern fast 40 Kilometer landeinwärts im Emsland. Da kommt Wolfgang Thos ins Spiel. Der ist Kapitän zur See, so norddeutsch-trocken, dass es staubt, und er sagt Sätze wie: „Das Revier ist ja verhältnismäßig klein für ein Schiff dieser Größenordnung.“ So kann man es ausdrücken. Oder auch: Wie zur Hölle kommt das größte Schiff, das je in Papenburg gebaut wurde, jetzt bitte ins Meer? Das Prozedere ist nicht ganz neu. Alle Kreuzfahrtschiffe von hier müssen über die Ems in den Dollart verbracht werden. Und das ist immer Millimeterarbeit.

 

Es ist nicht so, dass Thos und seine Crew einfach einsteigen und losfahren. Die Passage wird wochenlang vorbereitet und am Simulator geübt. „Wir kennen die Grenzen, und entlang dieser trainieren wir auch“, sagt der Kapitän. In der Nordsee angelangt, darf Thos zeigen, was er draufhat – er darf quasi die Sau rauslassen. Ein bisschen zumindest, denn er muss das Schiff einmal an seine Grenzen führen. Er fährt Höchstgeschwindigkeit und vollführt Manöver, die mit Passagieren undenkbar wären. Dinge, „die der spätere Kapitän niemals wird machen dürfen“. Man merkt, dass er sich darauf freut.
Vorher wird er das Schiff Mitte September in die Nordsee überführt haben. Die Arbeiter, die an der Aida Nova mitgebaut hatten, werden wie immer auf dem Deich stehen. Manche mit dem Fahrrad ein paar Kilometer nebenher fahren. Ein erhebender Moment. Drei Jahre verbinden eben. Bevor es weitergeht – Blöcke verschweißen und Kabel verbinden. Der ganz normale Alltag in Papenburg.