September 2006 / PLAYBOY / Text

Die Alp-Träumer

Alexander und Thomas Huber sind die besten Kletterer der Welt. Weil sie jeden Berg und jede Route bezwingen. Doch jetzt haben sich die beiden das scheinbar Unmögliche vorgenommen

Gescheitert. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Scheitern gehört dazu. Das weiß Alexander Huber. Er wäre niemals der beste Kletterer der Welt geworden, wenn er nicht immer wieder auch gescheitert wäre.

 

Aber jetzt will er nicht scheitern. Nicht auf diesem Stein. Vor ihm ragt die 500 Meter hohe Felswand der Großen Zinne in den Dolomiten senkrecht nach oben. Er wollte sie auf der Route „Direttissima“ bezwingen. Wollte hinaufklettern, nur mit der Kraft seiner Arme und Beine. „Free Solo“ – ohne Seil. Ohne doppelten Boden. Jeder minimale Fehler hätte katastrophale Folgen für ihn. Oder wie es Alexander Huber, 37, reichlich nüchtern ausdrückt: „Hundertprozentige Todeswahrscheinlichkeit.“

 

Es sind solche spektakulären Aktionen, die aus ihm und seinem zwei Jahre älteren Bruder Thomas die Stars der globalen Kletterszene gemacht haben – die „Huberbuam“. Die Männer aus Berchtesgaden werden sogar von Reinhold Messner, der ansonsten eher sparsam lobt, fast überschwänglich gefeiert. „Die Huber-Brüder haben das Klettern neu erfunden. Alexander ist derzeit der Kreativste und der Beste im alpinen Gelände“, sagt Messner. Immer wieder gehen die beiden neue Wege, andere als ihre Konkurrenten. Schnellere, schönere, gefährlichere. Von den drei großen Herausforderungen für Alpinisten lässt Thomas Huber nur eine gelten.

 

Den El Capitan in Kalifornien beherrschen sie perfekt, er gehört ihnen quasi. Der Mount Everest interessiert sie nicht, denn „das ist der Aldi unter den Bergen“, sagt Thomas, „der Ausverkauf des alpinen Gedankens“. Aber die dritte Aufgabe, die reizt die beiden Brüder wirklich. Und sie steht ihnen unmittelbar bevor – die Bewältigung des Cerro Torre in Patagonien, auch genannt der „unmögliche Berg“. Mitte Januar 2007 geht’s los. Dort werden sie alles geben müssen. Ihren Mut, ihre Kraft, ihre Ausdauer. So wie seinerzeit an der Großen Zinne in den Dolomiten.

 

Es war an einem strahlenden Frühlingstag vor vier Jahren. Wie immer bat Alexander Huber seinen guten Freund Heinz Zak, selbst ein erfahrener Bergprofi, die Fotos zu machen. Doch Zak weigerte sich. „Ich will nicht sehen, wie du stirbst“, sagte er. Alexander nahm es mit Gleichmut hin. „Er wusste ja nicht, wie es in mir aussieht. Von außen mag es haarsträubend wirken, aber ich war mir sicher, dass ich es kann. Ich hatte mich entschieden.“

 

Dabei hatte er in der Nacht schlecht geträumt. Auf dem einstündigen Weg zum Einstieg schieben sich immer wieder diese Bilder in seine Gedanken. Er sieht sich selbst aus 200 Metern nach unten stürzen. „Würde ich einen Aufprall noch spüren?“, fragt er sich. Dann klettert er los. Nervös ist er, zu nervös. Nach nur acht Metern „hat mich das Adrenalin überflutet“. Langsam steigt er zurück. Es geht nicht. Er kauert auf dem Stein.

 

Nach Minuten der Stille, die wie Stunden wirken, fasst er seinen Entschluss: Der „Point of no Return“ liegt bei 80 Metern, danach gibt es nur zwei Möglichkeiten – ans Ziel oder in den Tod. Bis dorthin will er es versuchen. Aber er weiß: Dieser zweite Versuch ist sein letzter. „Wenn ich wieder gescheitert wäre, hätte ich die Versagensängste vor dieser Wand nie mehr aus dem Kopf bekommen.“ Am „Point of no Return“ hält er kurz inne. „Ich war souverän und konnte das Adrenalin kontrollieren, war konzentriert und nicht nervös“, erinnert sich Alexander Huber. „Das Überschreiten des ,Point of no Return‘ habe ich sogar genossen, weil ich wusste, ich kann es – der Weg war frei.“

 

Stück für Stück kämpft er sich hoch, fühlt die Feinstruktur des Felsens, drückt dann mit doppelter Kraft seine Finger auf den Stein. Die doppelte Kraft ist beim „Free Solo“ seine Lebensversicherung gegen das Abrutschen. Nach zweieinhalb Stunden ist er oben. Erst jetzt nimmt er die Umgebung wieder wahr, sieht die Wolken, die von der Thermik nach oben getrieben werden, hört den Wind, riecht die frische Bergluft. Er setzt sich hin mit starrem Blick und denkt an gar nichts. Denn in so einem Moment „gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft“. „Free Solo“ ist die Königsdisziplin. Nur „die paar Quadratzentimeter des nächsten Griffs beschäftigen einen“, sagt Alexander. Die Große Zinne sei noch immer so präsent in seinem Kopf, „dass ich mich noch in 50 Jahren minutiös an diese Tour erinnern werde“. Tage später erfährt Mutter Maria daheim in Oberau bei Berchtesgaden von dem Abenteuer aus dem Radio. „Und dann hat mir meine Mama erklärt, was ich in Zukunft zu tun und zu lassen habe“, sagt Alexander. Nicht, dass er sich daran hält. „Es gibt Notlügen und Notversprechen“, sagt er.

 

Die Mutter hat es nicht leicht, denn auch ihr Mann ist Kletterer. Schon als Kinder proben die Jungs auf dem Apfelbaum hinterm Haus ihre ersten Kletterrouten. Als Alexander dann später in München Physik studiert, hat sie noch die Hoffnung, er würde als Diplomphysiker arbeiten, denn „sicherer wär’s schon“. Aber der Drang zum Klettern ist stärker. Über „Free Solo“ sollte man mit Mama Huber besser nicht sprechen, aber auch die anderen Aktionen ihrer Buben sind ihr nicht so recht: „Auch dieses Speedklettern freut mich gar ned.“ Aber gerade in diesem Bereich haben die Hubers Meilensteine gesetzt. Im kalifornischen Yosemite-Nationalpark steht der El Capitan, das „Zentrum der Kletterwelt“, wie ihn Thomas Huber nennt. Ihn kennen sie fast genauso gut wie die Berge um Berchtesgaden. Vor drei Jahren stellten sie dort ihren spektakulären Rekord im Speedklettern auf. Auf der Route „Zodiac“. Ein 600 Meter hoher, steiler Granit, auf den die Sonne gnadenlos herunterbrennt. Der Rekord lag bei knapp sechs Stunden, als die Hubers ihn sich vorknöpften.

 

Beim Speedklettern zählt nur das Tempo, alle Hilfsmittel sind erlaubt. Allerdings kann auch das tödlich enden, denn in den leichten Passagen verzichten Alexander und Thomas auf jegliche Sicherung. Um Zeit zu sparen. Deshalb trinken sie auch nicht. Ein Kaugummi muss reichen, um das Durstgefühl zu verdrängen. Bereits nach ihrem ersten Versuch lag der neue Rekord bei rund vier Stunden, ein Jahr darauf schafften es die „Huberbuam“ in einer Stunde und 51 Minuten. „Dieser Rekord wird lange Bestand haben“, vermutet Alexander. Es ist weniger Hybris als Realismus. Aber alles Erreichte wird überlagert von der geplanten Reise nach Patagonien im Januar 2007.

 

Dort stehen die drei mythischen Gipfel. Drei Gipfel, an denen sich Tragödien abgespielt haben, an denen berühmte und hoch begabte Bergsteiger erfroren, abstürzten oder scheiterten und aufgaben. Es sind der Torre Egger, der Cerro Standhardt und vor allem der Cerro Torre, der „unmögliche Berg“, wie er in Fachkreisen heißt. Das Wetter dort zermürbt selbst die härtesten Könner. Der Sturm soll sogar Steine nach oben blasen können. Dazu kommen Lawinen, ständig wechselnde tosende Winde, Schnee, Eis und die Wolken, die den Berg oft wochenlang verhüllen. Bis 1970 galt der Berg als unbesteigbar, bis der Italiener Cesare Maestri mit einem Kompressor Hunderte von Steigeisen hineinrammte. Damit wurde der Cerro Torre zwar bezwungen, aber nur auf der „Kompressor Route“, die für Alpinisten eher Treppensteigen als Klettern gleicht. Thomas und Alexander Huber wollen nun alle drei Gipfel überschreiten. In einem Zug. „Für mich eine der größten Geschichten des Alpinismus“, sagt Thomas.

 

Vor einem Jahr hatte er, der Ältere, bereits den Cerro Standhardt und den Torre Egger bewältigt, aber das Wetter verschlechterte sich, er musste aufgeben. Nun wollen es beide zusammen probieren. 60 Tage werden sie brauchen, für diesen „Grenzgang der neuen Dimension“, wie Thomas die Expedition nennt. „Es ist der Höhepunkt unserer Karriere.“