Februar 2006 / PLAYBOY / Text

Die Kanalarbeiter

Bobfahrer schuften ein Jahr lang hart, um für Sekunden zu explodieren. Der Start entscheidet über Sieg oder Niederlage. Ein Einblick in das Leben des Schweizer Favoriten Martin Annen und seiner Crew

Fünf Sekunden können verdammt kurz sein. Vor allem für Bobfahrer. Ein Jahr lang müssen sie sich für diese fünf Sekunden schinden. Sekunden, in denen sich fast alles entscheidet. Denn die Startzeit ist für Bobsportler die Basis ihres Erfolgs. Wer hier ein Zehntel verschwendet, dem fehlen im Ziel drei oder vier davon. „Für diese fünf Sekunden trainieren wir Tag und Nacht“, sagt Martin Annen, Schweizer Bobpilot und erster Anwärter auf olympisches Gold 2006.

 

Wenn am Startbalken die Ansage „Track is clear“ durch die Lautsprecher scheppert, setzt sich ein eigentümliches Schauspiel in Gang. Genau eine Minute haben die Bobfahrer jetzt noch Zeit, um zu starten. 60 Sekunden für urmännliche, animalische Rituale. Die einen brüllen sich an, andere klopfen sich mit beiden Fäusten rhythmisch gegen die Brust.

 

Die Schweizer klatschen ab. Dabei wirken die drei Bremser dermaßen angespannt, dass man sie besser in Ruhe lässt. „Wenn mich in diesem Moment einer anspricht, dann hat der ein Problem. Dann kann es sein, dass der ganz weit wegfliegt“, sagt Andi Gees.

 

Ruckartig bücken sich die Fahrer hinunter zum Bob. Mechanisch greift sich Gees den Holm. Es folgt ein Moment, in dem alles eingefroren scheint. Nur noch die Oberschenkel zittern, kaum wahrnehmbar. Den Blick starr nach vorn gerichtet. Kein Wimpernschlag. Kein Zucken der Iris. Viermal 110 Kilo Lebendgewicht, bis zum Zerplatzen gespannt. „Du fröstelst“, sagt Gees, „aber nicht vor Kälte, nur allein vom Adrenalin.“ Stehend auf den vorderen Fußballen, unter denen sich an den Schuhen Hunderte nadelfeine Spikes befinden. „Du konzentrierst dich voll auf die Beine“, sagt Gees. Dann brüllt der hinterste Bremser „GU-ET“, und Martin Annen ruft auch „GU-ET“. Dann: „UND.“ Das löst die inneren Federn – es geht los. Eruptiv.

 

Die Spikes krallen sich ins Eis, das Sportgerät rumpelt los wie ein leerer Güterzug. Nach dreißig Metern wuchten sich die Männer in den Bob. Die Einsneunzig-Bodybuilder wirken fast filigran, wie sie sich da ineinander, hintereinander in den 67 Zentimeter breiten Schlitten schwingen. „Das wird hundertmal eingeübt“, sagt Annen.

 

Für diese paar Augenblicke quälen sich Andi Gees und die anderen einen ganzen Frühling, einen Sommer und einen Herbst lang. Stemmen täglich bis zu 250 Kilo auf den Schultern, um die Schenkel aufzupumpen. Siebzig Zentimeter Umfang hat jeder. Dafür schieben sie jeden Tag ihr „Wagerli“, eine Art Einkaufswagen, über die Tartanbahn oder einen Bob mit Rollen den Berg hinauf und hinab. Dazu Sprung-, Sprint- und Krafttraining. Täglich drei bis vier Stunden. Alles für ein paar Zehntel.

 

Denn nach dem Start und dem Sprung in den Bob gibt es für drei Viertel der Besatzung während der knapp einminütigen Fahrt nichts mehr zu tun. Nur noch ducken und vertrauen. „Wir können dem Piloten zwar helfen, weil wir hinten die Fehler eher mitbekommen“, sagt Beat Hefti, der zweite Bremser im Bob „Schweiz I“. Aber diese Hilfe beschränkt sich auf das Gespräch danach. Während der Fahrt sind sie, bis auf gelegentliche Gewichtsverlagerung, nutzfreier Ballast. Kauernd und hoffend.

 

Das Binnenverhältnis im Viererbob sieht etwa so aus: vorn die Technik, dann zweimal die Kraft und ganz hinten die Schnelligkeit. Der Bob wiegt 180 Kilo, als Gesamtgewicht sind 630 erlaubt. Je schwerer die Besatzung, desto schneller fährt der Bob in der Bahn.

 

Für den Start allerdings braucht es schnelle Leute, und die wiegen eher wenig. Es gilt, die optimale Mischung zu finden: schnelle Leute mit viel Kraft und nicht zu leicht. Um jene Sekundenbruchteile besser zu sein als die Konkurrenz, beschäftigt Martin Annen eine ganze Riege Hochleistungssportler. Keiner im Team hat in seiner Jugend mit diesem Sport angefangen. Annens Sport war Schwingen, auch so eine Schweizer Merkwürdigkeit. Eine Art Ringkampf.

 

Annen suchte sich die besten Leute aus und schulte sie akribisch auf die Anforderungen des Bobsports um. Er bezahlt den ehemaligen Ringer Gees, den Leichtathleten Beat Hefti und den 10,32-Sekunden-Sprinter Cédric Grand einen ganzen Sommer lang nur dafür, dass sie sich für ihn fit machen. Das System hat Annen perfektioniert. Er hat die besten Schweizer bei sich im Team. Sollte einer ausfallen, rückt ein Gleichwertiger nach – etwa Leichtathlet Thomas Lamparter.

 

Das alles kostet Annen eine Menge Geld. Zur Finanzierung gründete er die Martin Annen Bobsport GmbH, ein kleines Unternehmen mit fünf Angestellten. 300.000 Euro sammelt er pro Jahr von seinen Sponsoren ein. Ein Zweierbob kostet 26.000 Euro, ein Vierer 46.000.

 

Reichlich teuer für ein karges Gerät aus Stahl und Karbon, „das keinen Motor hat und das man auch noch selbst schieben muss“, sagt Annen. Trotzdem kauft er jedes Jahr am liebsten neues Gerät. Noch weit mehr aber kosten die Gehälter, Reisekosten oder Bahngebühren. Vom Rest lebt die fünfköpfige Familie Annen. Gerade so. „Wenn ich vor acht Jahren gewusst hätte, was mir bevorsteht, ich hätte es nicht gewagt. Die Angst wäre zu groß gewesen“, gibt der Schweizer offen zu.

 

Ein geglückter Start ist im Bobsport viel wert. Erst danach kommt es auf den Fahrer an. „Man muss das schon können“, sagt Martin Annen. Kleinste Fahrfehler führen zu Stürzen. Einmal die Kurve falsch genommen, und schon liegt der Bob auf der Seite. Ganz zu schweigen vom Verlust weiterer Hundertstel durch minimale Abweichungen von der Ideallinie.

 

Die Streckenläufe hat Annen alle im Unterbewussten gespeichert. Schließlich gibt es keine zwanzig Bahnen weltweit, und die muss er blind fahren können. Kann er auch.

 

Vor dem Start geht jeder Pilot die Strecke im Geiste durch. Dabei zieht er auf Brusthöhe fäustlings an imaginären Lenkseilen, geht in die Knie, dreht sich um die eigene Achse, mal dreißig Grad rechtsherum, dann vierzig nach der anderen Seite. Was wie ein einsamer, langsamer Tanz aussieht. Oder wie Tai-Chi.

 

Die Gefahren sind allen im Team bewusst. „Jeder Sport, bei dem man einen Helm trägt, ist auch gefährlich“, sagt Annen lakonisch, um gleich nachzuschieben, dass ja eigentlich nichts passieren kann, wenn man aufpasst.

 

Bis zu 150 Stundenkilometer erreicht der Bob, die Insassen erdulden Kräfte von bis zu 5 G, der fünffachen Erdbeschleunigung. Den letzten Todesfall im Bobsport gab es vor zwei Jahren. „Früher waren es wesentlich mehr“, sagt Annen. Überhaupt sei es nur dann lebensgefährlich, wenn der Bob die Bahn verlässt.

 

Mehr noch als das Leben sind die Schultern der Bremser gefährdet. Es kommt vor, dass der Bob kippt und in Seitenlage schlittert – dann entstehen infernalische Schürfwunden. Wenn die blanke Haut – der Rennanzug ist im Grunde genommen nur ein zartes Nichts – mit mehr als 100 Stundenkilometern übers Eis schmirgelt. Fast je- der Bobfahrer hat an den Schultern handtellergroße Brandmale. Teamarzt Andreas Gösele weiß gar von Hauttransplantationen an diesen Stellen zu berichten.

 

Die Olympischen Spiele von Turin und der Eiskanal von Cesana, der ihm gut liegt, sollen Martin Annen zwei Goldmedaillen bringen. Eine für den Zweierbob, eine für den Viererbob. Dafür, sagt er, hat er sich die letzten vier Jahre gequält und ging er bis an seine finanzielle Schmerzgrenze. Bis zum Start in Turin bleibt den Mannen um Annen jetzt nur noch eines: Starten. Immer wieder.