Januar 2022 / PEKING.22 von Oliver Wurm / Text

Curliiiiiiiiiiiiiiing

Regelmäßig zu den Olympischen Spielen ertappen sich Millionen Deutsche dabei, wie sie beim Curling-Turnier zusehen und dabei in einen seligen Dämmerzustand versinken. Über das deutsche Männerteam und den besonderen Zauber dieser Sportart – trotz verpasster Qualifikation

So saß man also Samstagvormittag, das letzte Bier am Vorabend hätte man sich schenken sollen, mit Wollsocken und Bademantel auf dem Sofa. Es flimmerte die OlympiaÜbertragung von ARD oder ZDF, und man saugte sich hypnotisch an dieser Langsamkeit fest. Die Gedanken so diesig und blass wie der Schnee und Nebel draußen, still war es auch meistens, und dann glitt dieser schön polierte, 17 Kilogramm schwere Stein über das strahlend weiße Eis, fünf, zehn, fünfzehn Sekunden lang, bis er schließlich mit einem dumpfen „Donk“ an einen anderen ditschte. Zwei Männer mit Besen schrubbten drumherum, und dann schaltete die Regie auf den konzentrierten Blick des Mannes, der den Stein sanft auf seinen Weg geschoben hatte. Dazu erläuterte der Fernsehkommentar, dass das Wischen einen Wasserfilm erzeugen und so den Lauf des Steines beschleunigen würde. Es war unmöglich, sich davon loszueisen. In seiner sedierten Ruhe passt nichts besser zu einem Samstagvormittag im Februar als dieses Curling: Der perfekte Gegenpol zu all den halsbrecherischen Skiabfahrten oder den krachenden Matches beim olympischen Eishockey-Turnier.

 

Seit 1998 ist Curling wieder olympisch (nach 74 Jahren Pause), die Deutschen kamen bislang nie auch nur in die Nähe einer Medaille. Was vier junge, freundliche Herren nicht daran gehindert hat, die Qualifikation für Peking zu versuchen. Das deutsche Beinahe-Olympia-Team (siehe Info, Seite 79), wird angeführt von seinem Skip Sixten Totzek, einem 22 Jahre alten Badener mit austrainiertem Oberkörper und kantigem Kinn, der mühelos als Surfer auf Maui durchginge. Wie auch seine Mannschaftskollegen eher an eine geschickt sortierte Boygroup erinnern: Der ältere, ruhige Charakter (Dominik Greindl, 33), der Intellektuelle mit der Brille (Marc Muskatewitz, 26) und die quirlige, gut gelaunte Rampensau (Joshua Sutor, 22).

 

Sechs Monate im Jahr verbringt Sportmanagement-Student Totzek in Füssen und lebt dort in einer WG mit Sportsoldat Sutor. Nur damit sie hier im Bundesleistungszentrum trainieren können. Muskatewitz studiert im nahen Kempten, und auch Greindl, der in München als Unternehmensberater arbeitet, hat sich eigens für die Olympia- Vorbereitung ein siebenmonatiges Sabbatical genommen. Reine Amateure – mit einem Aufwand, der jedem Profi zur Ehre gereicht: 18 Stunden Training die Woche für die Grundlagen, vor großen Turnieren wie Olympia sind es rund 35, hat Muskatewitz errechnet. Auf dem Eis und im Kraftraum. Das so gemütlich wirkende Curling ist längst ein Hochleistungssport. „Jeder, der einen Spruch drückt, den lade ich herzlich aufs Eis ein“, sagt Muskatewitz. So wie jüngst seinen Physio, einen austrainierten jungen Mann, „der danach drei Tage lang Muskelkater hatte, an Stellen, wo er gar nicht wusste, dass er dort Muskeln hat“.

 

„Ich würde sogar behaupten, dass Curling die größte Vielseitigkeit aller Sportarten benötigt“, erklärt Sixten Totzek. Er spricht von Kondition, Kraft, Koordination, Taktik, Balance, Kommunikation, Teamfähigkeit, Physik und Geometrie. Und wenn er noch etwas nachdächte, dann fielen ihm sicher noch weitere Anforderungen ein. In der Tat sind alle vier topfit. Allein das Wischen erfordert reichlich Kraft und Kondition. Und Koordination, wenn sie sich im 45-Grad-Winkel auf den Wischer stemmen. „Im Idealfall schiebt man beim Wischen die Beine komplett nach hinten und legt maximalen Druck auf den Besen“, sagt Muskatewitz. Die „Besen“ des Jahres 2022 sind Smartbrooms, die den Druck via App messen können. Nicht selten liegen über sechzig Kilo auf dem Sportgerät.

 

Muskatewitz ist im Team der Experte fürs Eis, er bereitet es vor jeder Einheit sorgfältig vor. Mit feinsten Wassertröpfchen, die sogleich anfrieren, besprenkelt er die glatte Spielfläche – der Anblick erinnert an eine Raufaser-Tapete. Oder als hätte das Eis eine Gänsehaut. Alles, damit der Stein gleich gut „curlt“. Also genau so rutscht und sich dreht, wie es Skip Totzek haben will. Er muss den Curl „berechnen“, wie er sagt, und vor allem „einen Plan haben“. Man kann Steine setzen, um selbst Punkte zu machen.
Für jeden, der näher an der Mitte (dem „Topf“) liegt, als der erste des Gegners, gibt es einen Punkt. Man kann aber auch die Steine des Gegners blocken oder aus dem Weg räumen. Ganz wichtig ist dabei, welches Team den „Hammer“ hat, also den letzten Stein setzen darf. Daran hängt die ganze Strategie, die alle gemeinsam besprechen. Nichts ist beim Curling wichtiger als das Team.

 

„Ich hocke sechs Monate in Füssen, wenn man sich dann nicht versteht, wäre das bitter“, sagt Totzek. Im Team ergänzen sich die verschiedenen Begabungen. Jeder der Vier spielt pro Durchgang (End) zwei Steine, die Kollegen wischen dann jeweils, nur Skip Totzek wischt fast nie. Greindl spielt „auf der 1“, weil er „ein enorm guter Leger ist, er hat sehr viel Längengefühl“, sagt Sutor.

 

Die ersten fünf Steine dürfen nicht weggeschossen werden. Als zweiter folgt Sutor, dann Muskatewitz, und zum Abschluss setzt Totzek seine beiden Steine. Jeder stößt sich hinten am „Hack“ (einer Art Startblock) ab und gleitet auf dem „Slider“, dem Schuh mit den glatten Scheiben unter den Sohlen, im Spreizschritt ein Stück mit, bevor er den Stein mit einer sanften Handbewegung freigibt und ihm so Tempo und Drehung verleiht. Die beiden Kollegen warten mit den Besen, während der Skip am anderen Ende (dem „Haus“) den Verlauf des Steins berechnet – mit Augenmaß, aber auch mit der Stoppuhr, „oder mit viel Spurenlesen“, wie Totzek es nennt.

 

Ein Match hat zehn Ends, jedes Team spielt also 80 Steine. Gute zweieinhalb Stunden Wechsel zwischen Ruhe, Anspannung und Explosivität. „Das ist wie beim Biathlon, wenn du die ganze Bahn durchgewischt und einen Puls von 180 hast – aber als nächster dran bist. Da musst du den Puls irgendwie runterbekommen“, sagt Marc Muskatewitz.

 

In Deutschland gibt es lediglich 18 Vereine, die Curling betreiben. Zu diesem Sport kommt man eher durch Zufall: Ein Banknachbar in der Schule (Greindl), der curlende Vater (Sutor) oder ein Ferienprogramm im Golf-Club, der auch Curling anbietet (Muskatewitz). Schon mit zehn, zwölf Jahren reisten sie zu Turnieren ins Ausland und trafen Curling-Sportlerinnen und -sportler aus den anderen Ländern. Das verbindet. Zu Stars wurden sie dabei nicht. Wikipedia-Einträge zu den vier deutschen Spielern existieren bislang nur auf Englisch, mit der Übersetzung ist Google Translator überfordert: „Joshua Sutor ist ein deutscher Lockenwickler aus Füssen“, steht da. Den Vieren ist die die mangelhafte Wahrnehmung im eigenen Land ziemlich egal. „Man gewöhnt sich daran, und jeder in diesem Sport kennt das Problem – außer die Kanadier“, sagt Muskatewitz. In Kanada fassen Curling-Hallen schon mal 17.000 Zuschauer – und die werden auch voll. „Wir sind eine eigene Community, in der man gar nicht mehr merkt was die ‚normale‘ Gesellschaft dazu sagt.“ Klar, wenn sie in Kanada spielen, „und man im Supermarkt nach Autogrammen gefragt wird“, dann sei das schon toll. Aber sie lieben den Sport so oder so, „die vielen Reisen in Länder, in die ich sonst nie gekommen wäre“ (Sutor). Den ewig dämlichen Scherz – „Ihr könnt gern mal bei mir zum Putzen vorbeikommen“ – nehmen sie mit ebendieser Gleichmut hin. Zu oft gehört, als das man es noch wirklich hören würde.

 

Natürlich sieht es für manche putzig aus, wenn die Sportler auf dem Slider immer wieder auf einem Bein über die knapp 45 Meter lange Eisbahn schliddern. Natürlich wirkt es auf den ersten Blick kryptisch, wann welcher Stein warum wohin bewegt werden soll, und warum Totzek Dinge brüllt wie „hard curl“, „Split“ und „T-Line“. Natürlich sind auch zweieinhalb Stunden Spielzeit und etwa 160 mal 15 Sekunden, in denen jeweils ein Stein sehr, sehr langsam über das Eis rutscht, gute Gründe, dass Curling wohl niemals massentauglich werden wird. Aber je mehr man diesen Sport kennenlernt, umso eher taucht man ein in diese ganz eigene, freundliche und konzentrierte Welt.