Januar 2022 / PEKING.22 von Oliver Wurm / Text

Kopfüber

Wenn Deutschlands beste Skeleton-Fahrerin Tina Hermann den Eiskanal bergab rast, darf sie sich auf keinen Fall verkanten. Bei der täglichen Arbeit für ihren Traum von olympischem Gold ist aber gerade das Widerständige ihr Erfolgsrezept.

Niemals würde sie mit den Beinen voraus einen Eiskanal hinab rasen. „Da hätte ich viel zu viel Angst um meine Füße“, sagt Tina Hermann. Schon beim Sommerrodeln auf einer kindertauglichen Bahn hatte sie ein eher ungutes Gefühl. Und ließ es sein. Womit sie kein Problem hat: sich bäuchlings auf einen kleinen Schlitten zu legen und mit rund 130 Stundenkilometern den Eiskanal runterrasen, das Kinn etwa zwei Fingerbreit über dem Eis. Die Arme nach hinten angelegt, so dass auch der natürliche Reflex entfällt, bei Gefahr die Hände vor Kopf und Gesicht zu schlagen.

 

Wie kommt man auf die Idee, dieses Skeleton als seinen Sport zu wählen? Mit zwölf kam Tina Hermann aus Hirzenhain, einem Dorf in Hessen, aufs Skigymnasium in Berchtesgaden. Bald war klar, dass es als Alpine für ganz oben nicht reichen würde. Der Vater einer Schulfreundin, zugleich Sportdirektor des Bob- und Schlittenverbands für Deutschland (BSD), schlug ihr vor, doch mal zum Skeleton zu kommen. Das tat sie. Und blieb. Nach dreieinhalb Monaten ging es erstmals auf die Bahn, der Start weit unten, damit es nicht zu schnell wird. Auf dem Kopf trug sie ihren alten Skihelm.

 

Viele Jahre später, im November 2021, am „Sachsen Energie-Eiskanal“ in Altenberg. 1411 Meter lang, 122 Meter Höhenunterschied, siebzehn Kurven, maximales Gefälle bei 15 Prozent, Top-Speed 140 km/h. Der Ort, wo Tina Hermann zweimal Weltmeisterin wurde und jetzt einen Teil ihrer Olympia-Vorbereitung absolviert.

 

Es gibt Schöneres als den Startbereich eines Kunsteiskanals. Viele Rohre und Röhren, abblätternde Farbe und Rost. Der Wind pfeift, es ist nass oder kalt oder beides. Tina Hermann ist das vollkommen egal. Bevor sie startet, fährt sie, mitten im Gewusel der anderen Athleten, im Geist die Strecke ab: Den Kopf gesenkt, leichte Bewegungen, manchmal blinzelt sie, ein bisschen wie in Trance. Sie weiß: „Ich bin manchmal zu hektisch, will zu genau auf der Fahrspur sein. Dann zwinge ich das Gerät, anstatt es laufen zu lassen.“ Gesteuert wird „das Gerät“ über Druck aus den Schultern und den Knien, jeweils diagonal überkreuz. Linke Schulter und rechtes Knie, oder rechte Schulter und linkes Knie. Hermann holt ihren Schlitten aus der selbstgenähten plüschigen Schutzhülle. Aus den Lautsprechern knarzt Radio-Pop aus den Siebzigern. Manchmal singt Tina Hermann die Refrains mit, bei Liedern, die viel älter sind als sie. „Far Far Away“, „Wheel in the Sky“. Mit Messschieber und Schraubenschlüsseln justiert sie noch einmal die Kufen. Der Werkzeugkasten gehört zu ihrem Sport dazu, genau wie die innere und äußere Entschlossenheit. Selbst ihren Zopf bindet Tina Hermann energisch, als sie an den Start gerufen wird.

 

„Erfolg hat man nur, wenn man sich fügt und das tut, was nötig ist“, sagt ihr Trainer Dirk Matschenz. Sein Credo: „In der Bahn kann man keine Zeit gewinnen, nur verlieren.“ Matschenz steht an Kurve 11. Sekunden später rattert Tina heran, er filmt alles mit dem iPad. Später werden sie oben in der bauhüttenartigen Umkleidekabine die Videos ansehen und deuten. „Zu spät rein“, sagt er. Sie: „Ach du Kacke, zu viel Grip.“ Er: „Wenn du die elf so knapp fährst, dann brauchst du nicht mit dem Körper, dann reicht mit dem Knie.“ Er: „Nicht so konsequent in der zwölf.“ Und: „Wo willst du hin … zu früh … warte …warte!“ Hermann schaut konzentriert auf den Bildschirm, nebenher fönt sie ihre Schuhe trocken. „Das sind marginale Körperbewegungen, die man auch in der Bild-zu-Bild-Analyse kaum sehen kann“, erklärt Matschenz. Manchmal sagt sie: „Das stimmt nicht, ich mach das gar nicht.“ Dann zeigt er es nochmal.

 

Oft sehen ja die rasantesten Sportarten im Fernsehen eher kommod aus. Nicht mal eine Minute dauert eine Fahrt beim Skeleton, die Geschwindigkeit ist kaum wahrnehmbar. Dabei rattert und rumpelt es gewaltig. Auch maximal trainierte Fahrerinnen können höchstens vier oder fünf Läufe pro Tag absolvieren. „Wenn man müde ist, auch mal nur drei“, sagt Hermann. Mehr macht der Körper nicht mit, auch wenn sie den täglich knapp sechs Stunden trainiert. „Und auch die Birne nicht“, sagt sie. Bei 120, 130 Stundenkilometern wirken enorme Kräfte auf Nacken-, Kopf- und Schultermuskulatur. Der Kopf schleift auch schon mal auf dem Eis, wenn sie den Druck nicht mehr halten kann. Tausende kleinster Vibrationen muss sie aushalten, das Eis ist reichlich uneben. „Am Ende habe ich quasi eine kleine Gehirnerschütterung, so dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann“, erklärt sie.

 

„Aber ich habe ein Spezialteam, und das sitzt hier“, sagt Tina Hermann und schaut Dirk Matschenz an. Die Weltmeisterin und ihr „Athletiktrainer, Physio, Bahntrainer, Nervendoktor und Papa“ sind zwei kantige Charaktere, deren Kanten sich offenbar perfekt ineinander verzahnen. Beide ecken an, sind nicht unumstritten. Im März 2020 wurde Dirk Matschenz nach zwei Jahren als Bundestrainer gekündigt. Alle WM-Starterinnen und -Starter (außer Hermann) sprachen in einem Brief an den Verband von einem „gestörten Vertrauensverhältnis“ und von bevorzugter Behandlung für Tina Hermann. Dabei hatte man bei der WM neben dem gewonnenen Frauentitel auch bei den Männern und im Mixed gesiegt.

 

Matschenz’ Weltklasse beim Umgang mit dem Material, beim Schlitten, zweifelt niemand an. „Ausnahmsweise“ darf man zuschauen, was er da macht, erlaubt er, aber man müsse verstehen, wenn er einen dann doch rausschicke. Auf einem Campingtisch im Hotelkeller liegt der Schlitten wie zur Behandlung im Arztzimmer. Matschenz widmet sich ihm mindestens eine Stunde täglich. Er poliert die Kufen, stoisch und routiniert – und doch voller Zuneigung. Seine Welt besteht dann aus sechzehn Millimeter Rundstahl und ein paar millimeterdünnen Unterlegscheiben.

 

Seit 2011 arbeiten Matschenz und Hermann nun schon zusammen. „Man kann nicht ein Jahr vor Olympia den Trainer wechseln“, sagt Tina Hermann. „Du brauchst jemanden, dem du vollkommen vertraust.“ Ein paar Tage nach Ende der Spiele von Peking wird sie 30 Jahre alt, dann hat sie exakt ihr halbes Leben dem Skeleton untergeordnet. Jeden Tag Training, nur den Sonntag frei, und das auch nur im Sommer. Ansonsten zweimal täglich zwei bis drei Stunden Athletik, Ausdauer, zum Schlittenfahren kommt sie eher selten. Dazu die mangelnde Anerkennung, immer noch. Auf die Rodler schaut man seit dem Hackl Schorsch immer wieder mal, auf die Bobfahrer sowieso. Aber Skeleton? Traditionell die Nummer drei von Dreien. „Ich mache es, weil ich es liebe“, sagt Tina Hermann.

 

Obwohl Matschenz mittlerweile für den russischen Verband arbeitet, trainiert er sie auch weiterhin. Dafür nimmt Hermann nicht mehr an BSD-Lehrgängen teil und wohnt auch nicht in den Teamhotels, das haben sie mit dem Verband so vereinbart. „Eine verzwickte Situation“ nennt das die „Süddeutsche Zeitung“. Eine Situation, die aber bis Ende Februar 2022 so bleiben wird. Danach wird man sehen. Trotz der Isolation von ihren Teamkolleginnen wurde Hermann auch 2021 wieder Weltmeisterin, allein und im Mixed (zusammen mit Christopher Grotheer).

 

In die Olympia-Saison geht sie als Beste von allen und mit einem klaren Ziel: „Eine Zeit ins Eis brennen und sagen: Macht mal nach.“