Dezember 2016 / Allianz 1890 / Text

Jetzt zählt jede Minute

48 Stunden. So viel Zeit hat Gudrun Wronski, um einmal um die halbe Welt zu jetten. Sie selbst hat es nicht eilig. Der Inhalt ihrer blauen Tasche schon

Wenn Gudrun Wronski den letzten Code, #009, per SMS sendet, ist sie glücklich. Dann ist der Auftrag erledigt. Dann hat sie vielleicht mitgeholfen, ein Menschenleben zu retten. Dann ist alles gutgegangen. Schließlich kann manches schiefgehen bei dem Job, den sie ehrenamtlich macht – und von dem so viel abhängt. Gudrun Wronski ist Onboard-Kurier. Sie bringt Stammzellen von dem Ort, an dem sie gespendet wurden, zu dem Ort, an dem sie ein Leukämie-Patient im Kampf gegen den Blutkrebs bekommt. Und das ist nicht so banal, wie es klingt.

 

Denn sie hat weniger als 48 Stunden Zeit, dann ist ein Großteil der Stammzellen schon abgestorben. Und zwischen Spender und Empfänger kann schon mal ein Ozean liegen. Das Entscheidende aber: Weil der Patient bereits durch eine Bestrahlung oder Chemotherapie vorbereitet und dabei sein blutbildendes System komplett zerstört wurde, müssen die Spenderzellen ankommen. »Sonst hat der Patient praktisch keine Überlebenschance«, sagt Gudrun Wronski sachlich. Von ihrer Geschwindigkeit hängt also ein Leben ab. Zudem ist eine Stammzelltransplantation auch immer die letzte Chance, nachdem alle anderen Behandlungsmethoden gescheitert sind.

 

Rund 350 ehrenamtliche Kuriere stehen in der Datenbank des Münchner Kurierdienstes Ontime Onboard Courier. Unter der Adresse onboard-courier.com sucht das Unternehmen immer nach neuen Freiwilligen. »Sie sind bereit, Verantwortung für lebensrettende Knochenmarktransporte zu übernehmen, um an Leukämie erkrankten Patienten die letzte Chance aufs Überleben zu ermöglichen?«, fragt Ontime etwas pathetisch, aber durchaus treffend auf einem Flugblatt. Wer zwischen 25 und 60 Jahre alt ist, wer Führerschein, Reisepass, Smartphone und Kreditkarte besitzt, gut Englisch spricht und ein makelloses polizeiliches Führungszeugnis vorweisen kann, der kann sich melden.

 

So wie Gudrun Wronski, eigentlich Chefin einer Münchner Bildagentur. Sie wollte ihrer Arbeit in einer Branche, »die schnelllebig ist, eine künstliche Welt«, etwas Reales gegenüberstellen. Einfach was Uneigennütziges tun. Sie hat Biologie studiert, deshalb sollte es etwas Medizinisches sein. Je nachdem, wohin das Schicksal Spender und Patienten geworfen hat, entscheidet sich, wohin die Reise geht. Dabei ist Sao Paulo – Sydney genau so möglich wie Leipzig – Freiburg. Die Transporte der nächsten Monate finden die Kuriere auf der Website von Ontime. Falls Gudrun Wronski den Auftrag bekommt, folgt alles einem so routinierten wie exakten Ablauf. Zwei Tage vor Abflug besucht sie die Zentrale des Kurierdienstes, für ein ausführliches Briefing und um die Dokumentenmappe sowie die blaue Transportkühltasche abzuholen. Zu Hause legt sie die Kühlakkus ins Gefrierfach, um sie auf minus 18 Grad zu bringen. Nach 24 Stunden packt sie die Akkus in die Tasche, damit darin nach weiteren 28 Stunden die erforderliche Temperatur von zwei bis acht Grad entsteht.

 

Dann fährt Gudrun Wronski zum Münchner Flughafen. Und schickt per SMS den ersten Status-Code: #000. Heißt: Sie ist nun unterwegs zum Spender. Zum Beispiel nach Krakau. Obwohl allein die DKMS, die Deutsche Knochenmarkspenderkartei, als eine der größten Organisationen ihrer Art sechs Millionen Freiwillige aus aller Welt in ihrer Kartei führt, dauert es oft Monate, manchmal Jahre, bis ein Spender gefunden ist, dessen Stammzellen passen. Vier Stunden lang werden dem Spender die Stammzellen aus dem Blut gefiltert. Die Zellen reichen nur für eine Transplantation, was auch der Grund ist, weshalb man nicht zwei Kuriere auf verschiedenen Routen losschickt: damit einer auch ganz bestimmt ankommt.

 

Während die Stammzellenspende läuft, kann Gudrun Wronski nur warten. Oder sich die Stadt anschauen. Oder frühstücken. Im Krankenhaus wissen ja alle: sie ist in der Nähe und bereit für ihren Flug. Gegen 13 Uhr geht sie dorthin, etwa eine Stunde vor der vereinbarten Übergabe des »Produkts«, wie sie den Beutel mit den Stammzellen nennt. Formalitäten müssen erledigt, Protokolle unterschrieben und das Produkt übergeben und in der Kühltasche verstaut werden. Es ist jetzt bereits 15 Uhr, weil das Auszählen der Zellzahl diesmal länger gedauert hat. Die Uhr beginnt zu ticken. Auf schnellstem Weg muss sie zum Kunden, bevor die Lebensdauer der Stammzellen erreicht und sie wert- und nutzlos werden. Um 16.50 Uhr geht der Flug. Alles ist eng getaktet. Jede Stunde Wartezeit geht auf Kosten der Qualität der Stammzellen. Es darf es nichts schiefgehen. Aber wer schon mal im Berufsverkehr einer Großstadt unterwegs war, wer regelmäßig fliegt, der weiß: Es geht oft etwas schief.

 

Sollte sie irgendwo festsitzen, muss umgeplant werden. Dann ruft Gudrun Wronski in München an, von wo aus ein späterer Flug gebucht wird. Oft aber muss sie sich vor Ort etwas einfallen lassen: Abkürzungen, Schleichwege, den Taxifahrer bestechen, die Polizisten überreden. Egal, was. Hauptsache, das Flugzeug wird erreicht. Das Geld spielt an dieser Stelle nur eine Nebenrolle, erstens geht es um ein Leben, und zweitens verursachen die Kurierfahrten nur einen Bruchteil der Kosten, die für die Suche nach dem Spender und die Transplantation der Zellen anfallen.

 

Zweimal kam Gudrun Wronski in ihren bislang vier Jahren und 20 Aufträgen als Onboard-Kurier in Schwierigkeiten. Einmal ging die Tür des Flugzeuges nicht zu. Zwei Stunden lang saßen mehr als 100 Passagiere und eine lebensrettende blaue Tasche auf dem Rollfeld fest. Der Anschlussflug war nicht mehr zu kriegen. Von München aus buchte man neu und alles wurde gut.

 

Ein andermal wurden wegen eines Wirbelsturms über New York alle Flüge gestrichen. Tausende saßen fest, alle wollten weiter. Gudrun Wronski musste weiter, sonst könnte ein Mensch sterben. In so einer Situation muss sie die Initiative ergreifen, ohnmächtiges Warten ist keine Option. Es ging gut, »weil man immer Leute findet, die einem helfen«, sagt sie. Mitarbeiter der Fluggesellschaft oder eben deren Chefs, immer fragt sie sich so lange durch, bis sie an jemanden gerät, der die Dringlichkeit begreift und sich beherzt der Sache annimmt. Der sie noch vor all die so wichtigen Business-Reisenden, und Meilenkönige setzt. »Man muss sich halt immer mal wieder durchbeißen. Im absoluten Notfall muss ich mich wichtig machen und darf mich nicht in der Schlange anstellen«, sagt sie. »Das ist anstrengend, aber das muss man als Stammzellenkurier können«. Und so kam sie auch diesmal rechtzeitig in Tampa/Florida an.

 

In ihrem aktuellen Fall geht alles glatt, kein Stau, kein abgesperrter Flughafen wegen einer Bombendrohung (auch schon passiert), kein Vulkanausbruch in Island. Der Linienflug nach Chicago, wo Gudrun Wronski noch in ein weiteres Flugzeug umsteigen muss, kann pünktlich starten. Die Tasche trägt sie immer am Körper, und wenn sie sie an der Sicherheitskontrolle kurz abgeben muss, dann behält sie sie immer im Blick. Die Tasche darf nicht durchleuchtet werden, auch das würde die Zellen gefährden. Immer wieder schickt Gudrun die vereinbarten Codes ab: #002, wenn sie im Flugzeug sitzt. #003, wenn sie gelandet ist und durch die Security zum Anschlussflug geht. Und #004, wenn sie endlich die Klinik erreicht hat.

 

Den Job macht sie nicht nur aus Altruismus. Gudrun Wronski suchte sich das Ehrenamt auch aus, weil sie einfach gern fliegt. »Weil es eine Zeit ist, die ich für mich habe, wo ich nicht gestört werde und ich Sachen überlegen kann.« Und am Zielort selbst kann sie auch mal ein paar Tage auf eigene Kosten dranhängen. Das Thema »Fliegen« hat sie auch in ihrem sachlichen weiß-grauen Büro in München-Neuhausen stets im Blick. Auf ihrem Schreibtisch steht ein streichholzschachtelgroßer Origami-Kranich, selbst gefaltet.

 

Gegen 23.30 Uhr hält das Taxi vor dem Krankenhaus. Gudrun Wronski bringt die blaue Tasche auf die Station und lässt sich den Erhalt quittieren. Nun schickt sie den letzten Code nach München, #009. »Mein liebster Code, dann fällt die ganze Anspannung von mir ab«, sagt sie. Denn bei aller Verantwortung, die in den letzten Stunden durch die blaue Kühltasche auf ihr lastete, hat sie vielleicht dazu beigetragen, dass ein todkranker Patient eine gute Chance hat, wieder gesund zu werden. Sie liegt bei gut 70 Prozent bei Kindern, etwas weniger bei älteren Patienten.

 

Gegen Mitternacht kommt Gudrun Wronski im Hotel an, dann schickt sie noch eine letzte SMS nach München. Am nächsten Tag geht es dann wieder nach Hause. Wieder kann sie stundenlang fliegen und ihren Gedanken nachhängen. Eines aber wird sie aus Datenschutzgründen nie erfahren: Ob der Patient es geschafft hat, ob er lebt. Aber das, sagt Gudrun Wronski, sei auch gut so.