Februar 2009 / PLAYBOY / Text

Im Alleingang

Er bezwingt die höchsten Gipfel der Welt. Er meistert sie im Schnelldurchlauf. Und zwar allein. Deshalb ist der Schweizer Ueli Steck der beste Alpinist unserer Zeit

Als der Spanier tot war, blieb keine Zeit für Sentimentalitäten. Zweimal hatte Ueli Steck versucht, ihn zu reanimieren. Vergeblich, der Puls war weg. „Jetzt geht’s um mich“, dachte er. „Ich muss meine eigene Haut retten.“ Auf 7500 Metern ist kein Platz für Trauer. Wer hier überleben will, muss schnell handeln.

 

Drei Tage lang hatte Steck nicht geschlafen, hatte nichts gegessen außer täglich einem Süppchen. Und erlebt, dass da ein Mensch neben ihm stirbt und er nichts machen kann. „Ich war völlig am Arsch“, erzählt er. Dabei hatte er probiert, was ging. Er fütterte und wärmte den nahezu bewegungsunfähigen Kollegen. Alles umsonst. So viel Energie hatte er investiert, um das Leben des spanischen Bergsteigers zu retten – nur, um seine Leiche am Ende aus dem Zelt zu zerren.

 

Als ihn der Notruf erreichte, war Steck gerade dabei, die Südwand des Annapurna zu bezwingen, den mörderischsten Berg der Welt, diese 8091 Meter hohe Wand im Himalaja. Im Vorjahr war er an ihr gescheitert. Diesmal wollte er es schaffen. Doch dann erreichte ihn dieser Hilferuf, der ihm sagte, dass der befreundete Bergsteiger Iñaki Ochoa in Not geraten sei. Ueli Steck war am nächsten dran. Nur vier Tagesmärsche entfernt, quasi ums Eck. Doch allein, das wusste er, konnte er wenig ausrichten, nur hoffen, dass eine Gruppe Russen rechtzeitig eintrifft. Mit Sauerstoff, da hätte man Ochoa vielleicht noch helfen können. Vielleicht. Das Leben seines Kollegen konnte Steck nicht retten. Trotzdem hat er etwas getan, was kaum ein Alpinist in diesen Höhen tut: Er hat sich um einen anderen gekümmert und dafür Kopf und Kragen riskiert.

 

Der 32 Jahre alte Schweizer ist der derzeit beste Alpinist der Welt. Nicht nur, weil er sich an die steilsten Wände auf den schwersten Bergen wagt. Sondern auch, weil er schneller ist als alle anderen. Was die Sache anspruchsvoll macht. Und gefährlich. Denn je mehr man sein Leben mit Seilen und Karabinern absichert, desto langsamer wird man. Steck verzichtet auf maximale Sicherheit. Selbst auf 6000, 7000 Metern und mehr, wo die Luft so dünn wird, dass kein Rettungshelikopter mehr fliegen kann. Und weil ihm selbst das noch nicht reicht, geht Steck am liebsten allein. „Wenn du allein unterwegs bist, nur dann ist es auch wirklich deine Leistung“, sagt er. „Es ist nicht der Kollege, sondern bist allein du. Außerdem ist man viel schneller unterwegs.“ Längst ist der Annapurna für ihn so etwas wie eine Lebensaufgabe geworden. Nur einer von 14 Achttausendern, aber doch ein alpiner Schreckensmythos. Mehr als 100 Bergsteiger wollten den Berg schon bezwingen – die Hälfte kam dabei um. Stürzten ab, verloren die Kräfte, erfroren. Bei 7000 Metern beginnt die Todeszone, hier ist man eher im Weltall als auf der Erde. Die Luft ist dreimal dünner als unten, die Temperatur schwankt um bis zu 50 Grad, und der Wind bläst auch an ruhigen Tagen mit 160 km/h und mehr.

 

Stecks Fixierung aufs Tempo ist hier keine Laune, sondern bittere Notwendigkeit. Denn das schöne Wetter zeigt sich hier oben selten und kurz. Erblinden, Halluzinationen, Lungen- und Gehirnödeme sind der Preis, den die Extrembergsteiger entrichten müssen. Dem Erstbesteiger Maurice Herzog musste man nach dem Abstieg alle Finger amputieren. Der Brite Chris Bonington, in der Branche als „Held der Steilwände“ berühmt, stand hier und heulte wie ein Fünfjähriger.

 

Ueli Steck lebt in Ringgenberg bei Interlaken. In Sichtweite von Eiger, Mönch und Jungfrau. An der Eigernordwand ist er als Bergsteiger groß geworden, sie kennt er länger als seine Frau. Vor einem Jahr stellte er dort einen neuen Speed-Rekord auf: zwei Stunden und 47 Minuten für eine Tour, die auch erfahrene Alpinisten lieber in zwei Tagen bewältigen. Die alte Bestleistung lag bei etwas unter vier Stunden, aufgestellt im Februar 2007, von Ueli Steck.

 

Sichelartige, dünne O-Beine krallen sich spinnenartig an die glatte Wand, dazu die Pranken eines Bauarbeiters: Wenn Steck in der Kletterwand hängt, könnte er als Schimpanse durchgehen, so behände und schwerelos hangelt er über die Vorsprünge. Auch beim Free Solo, dem Freiklettern ohne jegliche Sicherung, wo nur Ruhe, Können und ein bisschen Magnesium an den Fingerkuppen vom Sturz in den Tod abhalten, ist Steck Weltklasse.

 

Ein Draufgänger ist er nicht. Er spricht mit leiser, fast flüsternder Stimme. „Eigentlich bin ich zu selbstkritisch, im Alltag mache ich mir einen Riesendruck für nichts. Aber beim Trainieren ist das natürlich hilfreich.“ 30 Stunden trimmt sich Steck pro Woche, ein Full-Time-Job. „Es gibt nicht viele Bergsteiger, die so konsequent trainieren wie ich“, sagt er. Denn Fitness, Kraft und Ausdauer, all das muss stimmen dort oben in der Todeszone. Erst nach zwei Jahren Vorbereitung wagte sich Steck das erste Mal an den Annapurna. Geduld ist eine wichtige Tugend für diesen Berg, auch im Basislager auf 5000 Metern: warten auf gutes Wetter, manchmal wochenlang. „Viele scheitern am Warten“, sagt Steck, „sie verlieren die Nerven und gehen nach Hause.“ Er genießt diese Zeiten. Dann kann er nachdenken. Und Krimis lesen.

 

Vier Menschen haben bislang versucht, die Südwand des Annapurna auf der direkten Route zu bezwingen. Zwei wurden von Steinen erschlagen, einer stürzte in den Tod, nur der Franzose Jean-Christophe Lafaille überlebte, nachdem ihm ein Steinschlag fast den Arm abgerissen hatte. Für ihn ist die Wand der „Rachen einer Bestie“. Ein Jahr bevor das mit Iñaki Ochoa passierte, wäre auch Ueli Steck fast an der Wand gescheitert: Als er aufwacht, liegt er irgendwo im Schnee. Sein Helm ist akkurat in zwei Teile gespalten. Er war gut vorangekommen, den Biwakplatz auf 6500 Metern würde er locker vor der Dunkelheit erreichen. Daran erinnert er sich noch, an mehr nicht. „Die Festplatte ist gelöscht“, sagt er. Erst später hat er erfahren, dass ihn ein Felsbrocken traf, dass er 300 Meter abwärtsrutschte, nur abgefedert durch den lebensrettenden Schnee, dass er rund eine Stunde bewusstlos war. Und dass er danach dem Erfrierungstod nur entging, weil er zufällig seine Markierungen wiederfand. Knapp war das. Aber wenigstens hatte er keinen Fehler gemacht. Steinschlag, sagt er, ist höhere Gewalt: „Bergsteigen ist eben gefährlicher, als im Büro zu sitzen.“

 

In diesem Jahr macht er Pause vom Annapurna und kümmert sich um andere spektakuläre Projekte. „Hohe Achttausender, technisch schwere Routen, Dinge, die noch nie im Alleingang gewagt wurden.“ Zwischenschritte sind das. Erst nächstes Jahr will er am Annapurna seinen dritten Versuch starten. Dann will er der Erste sein, der gesund zurückkommt. Und einer der wenigen, die überhaupt zurückkommen.