Januar 2007 / PLAYBOY / Text

Hundstage

Mut und Härte sind die Voraussetzungen für die Teilnahme am weltweit anspruchsvollsten Hundeschlittenrennen für Amateure: dem Fjällräven Polar Race in Lappland. Eine Portion Wahnsinn schadet auch nicht. Denn wer hier mitfährt, gerät schnell an die Grenze seiner Belastbarkeit

Ich solle mir noch ein Sandwich machen, sagt Michael, mein schwedischer Teamkollege. Dabei habe ich gerade erst zwei gepflegte Portionen Rühreier mit Speck verspeist, zubereitet von Frauen, deren ganzer mütterlicher Gestus zu sagen scheint: „Junge, iss was.“

 

Wozu also ein Sandwich? Trotzdem folge ich brav, lege ein paar Scheiben Roastbeef zwischen zwei Scheiben Weißbrot und wickle das Ganze in eine rote Serviette ein. Nicht ahnend, dass mir Michael mit diesem Sandwich das Leben retten wird.

 

Mir steht das ungewöhnlichste und härteste Abenteuer meines Lebens bevor. Aber auch davon ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Dabei hätte mich schon die Anreise warnen müssen. Wir sind am Vorabend in Tromsö gelandet, einer Stadt, 500 Kilometer nördlich des Polarkreises. Von dort aus ging es weiter in immer einsamere Gegenden. Das Blockhaus mit den norwegischen Hausmüttern war unsere letzte Nacht unter einem festen Dach.

 

Die Anmeldung hatte das Fjällräven Polar Race lapidar als 350-Kilometer-Rennen auf einem Hundeschlitten durch unberührte Natur angekündigt. Aber das ist ziemlich untertrieben. Es ist das härteste Hundeschlittenrennen für Amateure weltweit. Mit Etappenorten, die Väkkäräjärvi oder Jäkkälävaarajänkkä heißen. Durch Gegenden, in denen man tagelang auf keine Straße stößt, geschweige denn auf Häuser, Hochspannungsmasten oder Pommesbuden. Vier Tage und drei Nächte. Irgendwo in Lappland. Im Zelt. Ohne Dusche, Klo, Heizung oder fließend Wasser.

 

Nun muss gesagt werden, dass ich nicht direkt der Outdoor-Typ bin. Ich habe seit 15 Jahren nicht mehr im Zelt geschlafen. Dort, wo ich mich normalerweise aufhalte, sind Hotels und Pensionen jeder Kategorie immer in Laufnähe. Ich fühle mich in der berührten Natur weit wohler als in der unberührten. Selbst meine Liebe zu Hunden ist überschaubar. Ich mag sie. Aber nur, solange sie mir nicht zu nahe kommen und ich sie weder hören noch riechen muss.

 

Und nun das. Nach einer Nacht mit Pelzmütze auf dem Kopf liege ich in einem engen Schlafsack. Es ist eiskalt. Später sagt man mir, dass es etwas mehr als 25 Grad minus gewesen seien. Draußen jaulen die Hunde. Der Magen ist leer. Nur ansatzweise gefüllt mit einer kleisterartigen Masse aus der Tüte gestern Abend, Geschmacksrichtung „Tandoori“.

 

Sehnsüchtig denke ich zurück an das schnucklige Hotel nahe der Stockholmer Altstadt, in dem wir uns zum Einkleiden trafen. Wir erhielten diverse Mützen, Handschuhe und Sonnenbrillen. Campingkocher, Stirnlampe, Besteck, Klopapier. Schlafsack, Stiefel, Isomatte. Dann die Kleidung: erste Schicht Unterwäsche, zweite Schicht Unterwäsche, Schutzschicht, Isolierschicht. Das Fjällräven Polar Race will beweisen, dass jedermann in jeder Umgebung jede Situation meistern kann – mit dem richtigen Equipment. Das jedenfalls behauptet Martin Axelhed, der General Manager von Fjällräven. Wir sollen zum Schlafen nur die oberste Schicht ausziehen, rät er. Alles andere bleibe vier Tage am Körper. Spätestens an diesem Punkt hätte ich stutzig werden müssen. Erst recht, als Axelhed unsere Einführung mit dem Satz beendet: „Etwa 50 Prozent kommen zurück, den Rest verfüttern wir an die Hunde.“ Wir dachten, das sei ein Scherz.

 

Am nächsten Tag, hoch droben in Signaldalen/Lappland, bekommen Michael und ich die Startnummer acht und Espen Hamrvik als Schlittenführer zugeteilt. Espen ist 24 Jahre alt, ein „typischer“ Norweger mit rosigem Teint und blondem Schopf. Zu dritt werden wir versuchen, dieses Rennen zu gewinnen. Dann lernen wir unsere Hunde kennen. Sie begrüßen uns mit kakophonischem Jaulen und Bellen. Gewöhnungsbedürftig. Mein Leithund heißt Fido, seine Untergebenen von vorn nach hinten: Beauty, Lenin, Kottan, Gandalf und Inka. Inka ist läufig, was im Verlauf dieses Rennens noch zu Verwicklungen führen sollte. Dazu später.

 

Ich lege den Hunden das Geschirr an. Das ist die erste Lektion auf dem Weg zum Hundeschlittenpiloten: Kopf durch die Schlaufe, dann einzeln die Füße durch. Schlittenhunde sind sehr geduldig. Und sehr ungeduldig. Sobald sie merken, dass es losgeht, kennen sie kein Halten mehr. Der Schlitten ist deshalb an einem Baum festgebunden. Gandalf gräbt ein 50 Zentimeter tiefes Loch in den Schnee – so geil ist er aufs Loslaufen.

 

Gleich zu Anfang übernehme ich mich, weil ich mit den anderen mithalten will, anstatt mein eigenes Tempo zu finden. Immer wieder geht es bergauf, immer wieder muss ich laufen, denn die Hunde können mich bergauf nicht ziehen. Ich muss schieben, schieben, schieben. Und das oft mit Beinen, die bis zu den Knien im Schnee stecken.

 

Ich lenke durch Gewichtsverlagerung (vorher gelernt) und durch Schlittenherumwuchtung (nachher angewöhnt). Als Bremse dient eine Hakenkralle, vor allem aber die Füße, die ich dafür in den Schnee hacke. Später erfahre ich, dass wir am ersten Tag 700 Höhenmeter überwunden haben. Ich bin definitiv tot – und hätte an diesem Punkt wohl aufgegeben, wäre die nächste Etappe nicht etwas einfacher gewesen.

 

Moderate Steigungen. Die Schmerzen in den Knochen vertreibt die klare polare Luft. In einer Kurve rutsche ich von den zweifingerbreiten Holmen. Jetzt hilft nur noch festhalten. Denn die Hunde bleiben nicht stehen. Niemals. Wenn ich den Schlitten loslasse, ist er weg. Auf den Knien schleifen mich die Hunde über den Schnee. Irgendwie gelingt es mir, in voller Fahrt die Füße wieder auf die Holme zu bringen. Espen zeigt mir den Schumi-Daumen. Nur zweimal in diesen vier Tagen den Halt verloren, nie losgelassen – eine gute Quote.

 

Zwar folge ich, so gut es geht, dem Leitgespann von Espen, aber Lenin hat eine starke Tendenz nach rechts. Ausgerechnet Lenin. Immer muss ich leicht mit Armen und Beinen korrigieren, was nach vier Stunden in grauenhaftem Muskelkater mündet. Auf den schmalen, kurvigen Waldwegen ist das Überholen abenteuerlich. Weil Inka läufig ist, zieht sie das Interesse der anderen Gespanne auf sich: Die scharfen Jungs springen in meine Spur, einer rutscht unter meine Kufen. Der ist hin, denke ich. Aber der Hund schüttelt sich nur kurz und rennt weiter. Noch eine Lektion: Schlittenhunde sind unzerstörbar.

 

Abends, wenn die Sonne weg ist, wird es unkommod. Mit der Stirnlampe auf dem Kopf stapfen wir durch den Schnee und machen die Hunde an Bäumen und Gestrüpp fest. Dann füttern wir sie. Espen kocht Wasser, in dem wir eine animalisch stinkende Wurst aus Gänseschmalz und Rindfleisch auflösen. Ich habe Hunger. Nach dem ganzen Tütenkleister will ich nicht mehr ausschließen, dass ich auch mal probiere.

 

Danach wird das Zelt aufgebaut. Erst muss der tiefe Schnee geplättet werden, damit das Zelt überhaupt ausgebreitet werden kann. Was schon am Gardasee bei Tageslicht lästig wäre, ist hier fast unerträglich. Es dauert beinahe eine Stunde, bis das Zelt endlich steht. Ich will nur noch schlafen. Bloß kein Eis und keinen Schnee mehr schmelzen, um eine weitere Tüte Bolognese-Kleister aufzuwärmen.

 

„Du musst etwas essen“, befiehlt Michael, der hier in Lappland seinen Militärdienst geleistet hat. Aber auch danach darf ich noch immer nicht schlafen. Die Bettruhe will in der Schneewüste extrem behutsam vorbereitet sein. Nur keine Feuchtigkeit ins Innenzelt bringen. Das ist leicht gesagt, zumal die Schuhe unter den Schlafsack müssen, damit sie innen nicht feucht werden. In den Schlafsack gehören: die Gaskartusche, mein Kontaktlinsenbehälter, die Wasserflasche – alles, was nicht einfrieren darf.

 

Statt mich in den Schlaf zu weinen, knabbere ich an meiner illegal eingeschmuggelten Bitterschokolade und trinke ein bisschen Whisky dazu. Beides habe ich eher zufällig im Stockholmer Duty-Free-Shop gekauft. Offiziell ist Alkohol bei diesem Rennen natürlich verboten. Aber das ist mir jetzt egal.

 

Um fünf Uhr ist die Nacht zu Ende. Ich öffne das Innenzelt, Raureif rieselt auf mein Gesicht, die Fellmütze ist feucht. Wer kein Morgenmuffel ist und schon früh immer bester Laune, sollte mal in eine gefrorene Schneehose schlüpfen. Alles ist Eis – die Brillengläser, die Feuchtigkeitscreme, das Trinkwasser. Spätestens jetzt wird klar: Das wirklich Schlimme hier sind nicht die Anstrengung, die minus 25 Grad, das Zelt im Schnee. Schlimm ist, dass man sich nie richtig aufwärmen kann. Es ist immer kalt – morgens, mittags, abends, nachts.

 

Weiter geht’s. Kilometer machen. Espen packt der Ehrgeiz, er will gewinnen. Er voraus, dann Michael mit seinem Schlitten, am Ende ich. Nach der vierstündigen Erholungs- und Mittagspause – es gab „Pasta-Chicken“-Kleister und wässrigen Instantkaffee – machen sich erste geistige Ausfälle bemerkbar. Eine Fata Morgana. Auf dem Hochplateau, das wir seit Stunden überqueren, ist nichts außer Weiß zu sehen. Verkrüppelte Baumbastarde ragen aus dem Schnee. Im Augenwinkel sehe ich graue vierstöckige Mietshäuser. Ich drehe meinen Kopf dorthin. Nichts. Nur Schnee. Der Gedanke an eine Cola und ein Snickers nimmt widernatürliche Dimensionen an.

 

Espen steckt uns beim Zwischenstopp in Kamas (kein Ort, nur drei verrammelte Holzhütten) heimlich zwei Müsliriegel zu – granithart und fünf Monate über dem Haltbarkeitsdatum. Wir sollen sie während der Fahrt essen. Als er das sagt, kaue ich bereits am zweiten Riegel. Ich bin dem Wahnsinn nahe. Obwohl wir noch weit von dem entfernt sind, was im Vorjahr passierte, als der Polarsturm einige Teilnehmer durchdrehen ließ, ein Norweger sich das Schlüsselbein brach und eine deutsche Teilnehmerin den Knöchel. Immerhin sind wir nach dem zweiten Tag auf Platz fünf. Das tröstet.

 

Am dritten Tag erfahre ich, was Hunger ist. Kein Magenknurren, sondern ein dämmriges Gefühl der Ermattung. Da erinnert mich Michael an mein eingewickeltes Roastbeefbrot, längst steinhart gefroren. Michael errichtet eine Kochstelle im Schnee, nimmt von Espen, was der noch hat, ein paar Cracker und ein bisschen Remouladensoße aus der Tube. Er brät das Roastbeef, röstet das Brot – und zaubert die herrlichste Mahlzeit meines Lebens. Michael lacht weiße Wolken. „Mehr ‚Nichts‘ als hier ist nicht möglich“, sagt er.

 

Der letzte Tag. Gelassene Gleichgültigkeit macht sich breit. Alles schmerzt, die Knie und die Ellenbogen vom dauernden Geratter. Die Fingerkuppen sind blutig, der Muskelkater lähmt. Aber es hat sich gelohnt: Ich weiß nun, was ich im Extremfall aushalten kann. Und auch die Natur wirkt auf mich jetzt phantastisch. Kein Haus, kein Telegrafenmast, keine Straße. Absolute Stille. Dazu die strahlende Sonne, die den Schnee funkeln lässt.

 

Auf einem zugefrorenen See ist das Ziel aufgebaut, die Einheimischen klatschen. Wir laufen mit knapp 20 Stunden Rennzeit auf Platz sechs ins Ziel. Und haben es überlebt.