März 2003 / GQ / Text

Ein Mensch namens Müller

Der Bomber der Nation hat höchste Höhen erlebt und tiefste Tiefen überlebt: Aus einem schwäbischen Meteoritenkrater stieg Gerd Müller zum Weltmeister auf und wäre in Florida fast im Alkohol versunken. Bis der FC Bayern München daran erinnert wurde, dass er ohne den besten Stürmer aller Zeiten nicht da wäre, wo er heute ist.

Wie jeden Tag hat Gerd Müller auch an diesem Tag keine Zeit. Seit halb acht ist er auf dem Trainingsgelände des FC Bayern München. Gefrühstückt hat er schon zu Hause. Gleich noch eine Besprechung mit dem Trainerstab, dann das Vormittagstraining, danach zwei Stunden Tennis, danach Mittagspause, dann wieder das Training mit der Mannschaft. So sieht der Tag aus und so muss er aussehen, damit Gerd Müller nicht zu viel Zeit hat. Damit die Welt an ihrem Platz ist, damit alles einen Rahmen hat, aus dem man nicht mehr so leicht fallen kann.

 

Als alles anfing, passte alles in einen Rahmen. Der Fußball war schwarzweiß und der FC Bayern zweitklassig. Gerd Müller kam aus dem schwäbischen Meteoritenkrater Nördlingen nach München, gestärkt durch den Kartoffelsalat von Mutter Katharina und 180 Tore in einer Saison für den heimischen Turn- und Sportverein. Jahre zuvor war er beim TSV Nördlingen aufgetaucht und der Kapitän der Jugendmannschaft sagte: „Was will denn der Diekwanst hier?“ In München sagte sein erster Trainer, Zlatko Cajkovski, den sie alle Tschik nannten: „Was will ich mit einem Gewichtheber?” Kränkungen, die Gerd Müller anspornten, aber auch sehr verletzten. Und sie kommen einem sofort in den Kopf, wenn man Gerd Müller sieht: Zu kurze Beine für einen zu langen Oberkörper, zu dicke Oberschenkel (Umfang: 64 Zentimeter) für zu schmale Schultern – Müller sieht aus wie einer dieser Kraftmenschen, die Hanteln stemmen und osteuropäische Namen tragen. Bestimmt ist er ein begabter Gewichtheber. Aber Fußball?

 

So saß Gerd Müller erst mal draußen, als der FC Bayern in der Regionalliga startete. Zehn Spiele fanden ohne Müller statt und im elften durfte er nur mitmachen, weil es Präsident Wilhelm Neudecker nachdrücklich wünschte, Er stieg gut ein, mit zwei Toren gegen den Freiburger FC. Jetzt nannte ihn Cajkovski „kleines, dickes Müller“. Das klang schon liebevoller. Der Gewichtheber war Tschik ans Herz gewachsen. 140 Mark bekam Müller von den Bayern und nochmal 400 von einem Möbelhaus am Münchner Ostbahnhof, für das er Schränke bis ins vierte, fünfte Stockwerk hinaufschleppte. „Damals durfte man noch nebenher arbeiten“, sagt Müller. Er sagt wirklich „durfte“.

 

Mit dem Aufstieg der Bayern und ihren ersten Erfolgen wurde auch Gerd Müller immer bekannter. Er schoss Tore, Tore, Tore und bald war er der „Bomber der Nation”, obwohl er eigentlich kein Bomber war: Er bombte den Ball nicht ins Netz. Er drehte, schaufelte, rutschte, stupfte den Ball irgendwie hinein, Und weil man irgendwann für all diese seltsamen Bewegungen mit sämtlichen im Fußball erlaubten Körperteilen keine Begriffe mehr fand, nannte man es „müllern”. Er müllerte im Sitzen, mit dem Hintern, im Stehen, Fallen und Liegen. „Der Sechzehner war mein Revier”, sagt Müller. Und solange sich das Leben in den 665 Quadratmetern vor dem Tor abspielte, so lange war alles im Rahmen.

 

Der Rahmen wuchs, als der Fußball bunt wurde. Ab der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko waren die Fernsehübertragungen farbig und auch das Drumherum änderte sich: im LST-Rausch entstandene Tapetenmuster, sexuelle Revolution, Glamrock. Spieler wie Günter Netzer, der sich einen Sportwagen kaufte, eine wilde Frisur und diverse Blondinen spazieren führte. Spieler wie Paul Breitner, der sich unter einem Mao-Poster fotografieren ließ, mit Uli Hoeneß in Unterhosen vor einem Oldtimer posierte. Spieler wie Franz Beckenbauer, der mit einem Film namens Libero in den Kinos unterging und der mit Schallplatten wie Gute Freunde kann niemand trennen zwar keinen Erfolg hatte, deren Melodien aber noch heute im Olympiastadion angestimmt werden. Auch Gerd Müller schleppten sie ins Tonstudio. Dann macht es bumm, „sang“ er. Dass sie die Single nach einem Vierteljahr wieder eingestampft hätten, sagt er ohne Bitterkeit, eher schon mit Belustigung darüber, welche Situationen er erleben musste, weil plötzlich alle verrückt spielten. Weil es nicht genug war, immer und immer nur Tore zu schießen. „Ich hab die Partydeppen net gmocht”, sagt er, er verbrachte die Abende lieber daheim bei Ehefrau Uschi. Udo Lattek sagt, Müller hätte mehr aus sich machen können, „aber das war eben nicht sein Ding“. Lattek trainierte Anfang, der 70er fünf Jahre lang die Bayern und erlebte einen Gerd Müller auf dem Höhepunkt.

 

Alles wurde anders in dieser Zeit, nur Gerd Müller nicht – oberflächlich betrachtet. Die Veränderung spielte sich drinnen ab. Doch davon merkte man noch nichts. Erst wurde er zur Legende, zum besten Stürmer der Welt, zum bis heute unerreichten Torproduzenten, Zum Gerd Müller, der 365 Tore in 427 Bundesligaspielen schoss (Rekord), 68 Tore in 62 Länderspielen erzielte (Rekord), der Torschützenkönig der WM 1970, Europa- und Weltmeister, Europapokalsieger, deutscher Meister und siebenmal Bundesliga-Torschützenkönig wurde, der das Silberne Lorbeerblatt der Bundesrepublik Deutschland und das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt.

 

Das Tor, das Deutschland gegen die besseren Niederlande zum Weltmeister machte, hätte ein Ronaldo, ein Zidane, ein Raúl nie geschossen – denn ihnen wäre der Ball nicht drei Meter weggesprungen. Müller schon. Und so liefen drei Holländer ins Leere, während er sich unter den Ball hebelte und ihn ins Tor drehte, in exakt 43 Hundertstelsekunden. Gerd Müller reagierte halt oft schneller und war beharrlicher als die Mitspieler und Gegner. Torinstinkt? „Ich bin neunmal umsonst glaufen und beim zehnten Mal hat der Torwart den Ball fallen lassen. Man muss stur sein.“ Das ist alles? „Du musst wissen, wo’s Tor steht.” Gerd Müller ist ein Freund einfacher Erklärungen. „Des hast du oder du hast es net”, sagt er. Und auch: Er sei einfach immer schon der Torjäger gewesen. „Drrr Torrjägrr”, sagt er. Müller spricht schnell und hart, er knödelt die Worte noch immer im Nördlinger Dialekt heraus. Viele seiner Sätze kommen einem bekannt vor, aus den früheren Interviews. Gerd Müller hat nicht so viele verschiedene Sätze, er ist nur ganz wenigen Einladungen vom Fernsehen gefolgt. „Mir liegt des net so”, sagt er, „aber der Franz – der Franz ist des schon eher gewohnt.” Einer wie Beckenbauer war er nie.

 

Uli Hoeneß, der ihn 1970 zum ersten Mal traf, war beeindruckt: „Ein Athlet mit unglaublichen Oberschenkeln, sehr gute Hebel. Der Gerd konnte sich auf engstem Raum sehr schnell drehen und vor allem schießen wie ein Ochse.” Außerhalb seines Reviers war Müller „höflich, nett, freundlich, zuvorkommend“, sagt Udo Lattek und kann sich nicht erinnern, „jemals wieder mit einem so angenehmen und sympathischen Spieler gearbeitet zu haben”.

 

Andererseits war Müller auch ein „sehr offener Mensch, ein geradliniger Typ, der immer gesagt hat, was ihm nicht passt, und das dann konsequent durchgezogen hat”, sagt Hoeneß. Bevor Müller die Tore machte, die Deutschland 1974 den Weltmeistertitel brachten, hatte er seinen Rücktritt erklärt. Auch, weil er sich über die Funktionäre ärgerte, denn „die wollten uns a Prämie geben, da lachst dich kaputt”. Fünf Jahre später löste er seinen Vertrag beim FC Bayern auf, nachdem Trainer Pal Csernai offen erklärt hatte, dass ihm der alte Torjäger nicht mehr ins neue Konzept passe, Csernai wechselte ihn aus, setzte ihn auf die Bank. Müller ließ sich das nur einmal gefallen. Man muss stur sein.

 

Es war die Zeit, in der er sich schon verändert hatte. All die Komplexe, Selbstzweifel und Ängste, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten, konnte er nicht mehr mit seinen Erfolgen verdrängen. Die Bayern wussten nicht genau, wie, „aber wir haben alle gespürt, dass er nicht mehr der Gerd Müller war, den wir kannten, der Gerd Müller, der immer optimistisch war, nie aufgegeben hat”, sagt Uli Hoeneß. Falsche Freunde und schlechte Berater kamen ins Spiel und auch gesundheitlich liefs nicht gut. Aus sportlicher Sicht, sagt Hoeneß, habe Trainer Csernai völlig richtig gehandelt. Und Müller? Der wollte aufhören, aber dann kamen die Herren aus Fort Lauderdale, die ihm etwas vom Fußball in den USA erzählten. „Der Vertrag war gut”, sagt er, „aber ich hab Naa gsagt“, denn
schließlich sei er doch „kein Typ fürs Ausland“, Und dann erzählten ihm die Herren aus Fort Lauderdale, dass die Saison nur sechs Monate dauere und er den Rest des Jahres in München verbringen könne. Da ließ er sich umstimmen. Wohl auch, weil der gutmütige Bomber ein paar Dollar gut brauchen konnte, nachdem er von einem Berater um Millionen betrogen worden war. Mit dem Wechsel nach Amerika sei er dann endgültig aus unserer Sicht gegangen, erinnert sich Hoeneß,

 

Anfangs war noch alles gut in Florida. Müller wurde mit 55 Scorer-Punkten gleich Drittbester in der North American Soccer League NASL. „Ich war froh, dass ich nicht Erster war, denn sonst hätte ich eine Rede halten müssen.“ Insgesamt 80 Spiele machte er in drei Jahren, schoss dabei 40 Tore und alles war wunderbar, er wurde von den Zuschauern sogar zum besten Spieler gewählt. Im November 1981 eröffnete Müller das Steakhaus Ambry in Fort Lauderdale und blieb noch bis 1984. „Das war der Fehler“, sagt er heute, „denn das Lokal wurde erst am Abend aufgemacht – und wenn du den ganzen lag nichts zu tun hast ..” Der Alkohol stand immer vor seiner Nase. Dass da etwas nicht mehr normal sei, hat er nicht gemerkt. Sein Leben fiel aus dem Rahmen.

 

Er kehrte zurück nach München – aus Heimweh und weil ihn sein Steakhaus-Partner übers Ohr gehauen hatte. Und dann? Was tat er in der Zeit, in der Beckenbauer die Nationalmannschaft trainierte und Uli Hoeneß zum erfolgreichen Manager aufstieg? „Nix”, sagt Gerd Müller, und das duldet keinen Widerspruch. Nix. Fast ein ganzes Jahrzehnt verschwindet in diesen drei Buchstaben. Müller saß stundenlang vor dem Fernseher, stritt sich mit seiner Frau und eine Boulevardzeitung druckte einen Satz, den seine Tochter Nicole gesagt haben soll: „Ich
kann ihn nicht mehr ertragen.“ Ob das stimmte, interessierte niemanden. Müller gab noch ein paar Autogrammstunden, tapste in Prominentenmannschaften herum und nachher, beim Bankett, trank er viel und merkte nicht, dass sie ihn auslachten. Auch Uli Hoeneß hörte in dieser Zeit überhaupt nichts mehr vom alten Kollegen: „Da war für uns alle ein Riesenloch”, sagt er. Bis zu dem Tag, an dem einer der wenigen verbliebenen Freunde Müllers zu Hoeneß ging und die Geschichte des Absturzes erzählte. Gerd Müller war längst Alkoholiker. Das Ende des Jahres 1991 hätte auch sein Ende sein können.

 

Doch dann wurde gehandelt. „Innerhalb von zwei Stunden war ich beim Uli im Büro und der hat sofort rumtelefoniert, wo was frei ist”, sagt Müller. Schon am nächsten Tag ging er in eine Entzugsklinik in Garmisch-Partenkirchen. Ui Hoeneß las Bücher über Alkoholismus und jeden Abend, gleich nach dem Bürs, fuhr er nach Garmisch. „Daraus ist dann eine sehr enge Bindung geworden”, sagt Hoeneß. Nach vier Wochen wollte Müller wieder raus, obwohl die Ärzte ihn noch länger behalten wollten. Aber stur, wie er immer noch war, ging er: Müller wollte sich nicht mehr mit der Leiterin herumärgern und schon gar nicht mehr das Sportprogramm mitmachen – „irgend so ein Yogascheiß“, sagt er. Er entließ sich selbst als geheilt, weil er für sich beschlossen hatte, nicht mehr zu trinken. Bis heute hat er keinen Tropfen mehr angerührt. Hoeneß gab ihm den Job im Trainerteam beim FC Bayern München. Den Job hat er bis heute. Man muss stur sein,

 

Es ist tragisch, dass Müller es nicht schaffte, sein Riesenkönnen und auch das Geld hinüberzuretten in die Zeit nach dem Fußball. Dabei wäre „der FC Bayern ohne ihn nicht das, was er heute ist”. Das sagt Hoeneß und das sagt Beckenbauer. Und Gerd Müller? Der versteckt sein Gesicht hinter einem Vollbart und seinen Körper in einem schlabbrigen Trainingsanzug. Bei den Heimspielen der Bayern sitzt er im Stadion, aber nicht oben bei Beckenbauers, sondern unten, da, wo die Fernsehtechniker sitzen dürfen, die Sanitäter und das Personal. Dort fühlt er sich wohler, obwohl er sich „da den Arsch abfriert“, Und dann schimpft er, auf Giovane Elber, den könne er umbringen, weil er die leichten Tore nicht mache. Dann sagt er, er würde heute immer noch 50 Tore pro Saison schießen. Müller ist 57 und Kotrainer der Amateurmannschaft, eigentlich kein Job für ihn, wenn man sich ansieht, was aus seinen ehemaligen Kollegen Beckenbauer, Hoeneß, Breitner, Netzer und den anderen geworden ist.

 

„Ich bin ein glücklicher Mensch“, sagt Gerd Müller. Die Welt ist an ihrem Platz, alles hat einen Rahmen.