Februar 2003 / Frankfurter Allgemeine Zeitung / Text

Der Sinn des Lebens

Was man nicht alles tut als Fan, um dem FC Bayern München nahe zu sein

München. Diese Geschichte liefert keine Erklärung. Dafür, daß Andy Bauer, 31, nach Ostwestfalen trampt, um sich in Harsewinkel ein Testspiel der Amateurmannschaft des FC Bayern München anzusehen. „Bei Nieselregen auf Kunstrasen an einem Montag abend, es ist kalt, und du denkst nur: Scheiße“, sagt er. Er hat keine Erklärung, warum er das immer wieder macht, warum er sich alles ansieht, was mit dem FC Bayern zu tun hat. Er hat sie auch noch nicht gesucht. Es ist so, wie es ist.

 

Andy Bauer heißt nicht Andy Bauer, aber sein richtiger Name darf nicht in der Zeitung stehen. Es könnte Ärger geben in der Firma. Natürlich muß er seine Arbeit dem Hobby anpassen, gerade bei Auswärtsspielen unter der Woche. Und wenn der Urlaub verbraucht ist und auch die Gleitzeitregelung es nicht mehr ermöglicht, „dann bin ich krank“, sagt er lakonisch. Und wenn er zur Arbeit kommt, wäre sein Chef kaum begeistert, wenn er wüßte, „daß ich früh um fünf mit dem Zug aus Rostock zurückgekommen bin“. Also weiß keiner von seiner Obsession. Der eine oder andere ahnt, daß er irgendwie mit dem FC Bayern sympathisiert.

 

Es ist Sonntag nachmittag. Andy Bauer verbringt ihn in der Turnhalle an der Säbener Straße. Am Mittag spielte die U 17, dann die U 18, jetzt sind die Männer dran. Regionalliga-Basketball. „Kriegen wir einen Bus zusammen?“ fragt Andy Bauer mit Blick auf das nächste Auswärtsspiel in die Runde. Die besteht aus Typen, wie er einer ist. Unterm ausgewaschenen Sweatshirt wölbt sich ein Bauch, der Haarschnitt ist eher schlicht, die Gesamterscheinung harmlos. Der Merchandising-Irrsinn des Klubs geht an ihm vorbei, er hat nur einen rot-weißen Schal, der aussieht wie von der Oma gehäkelt.

 

Vor fünfzehn Jahren sah er zum ersten Mal ein Spiel des FC Bayern München im Olympiastadion. Seit 1990 hat er jedes Bundesligaspiel gesehen. Auswärts und zu Hause. „Auch in der Champions League habe ich jedes Spiel gesehen.“ Die Bayern spielten schon in Moskau, Kiew, Helsingborg. Irgendwann beschloß man in seinem Fanklub, von jeder Abteilung mal ein Heimspiel anzusehen. Also gingen sie los, zum Handball in die zweitunterste Liga; sie erkannten auch: „Schach ist ziemlich bitter.“ Zumindest, wenn man eine Ligapartie über sechs Stunden ansieht.

 

Heute organisiert Andy Bauer sein Leben nach Spielen sämtlicher Abteilungen des FC Bayern. Wo immer eine Mannschaft mit Bayern-Emblem auftaucht – er ist da. Ob im Trainingslager der Profis in Marbella, beim Turnier der E-Jugend in Rosenheim, bei der dritten Basketball-Mannschaft in Ismaning. Das einzige Argument gegen den Besuch eines Spiels ist Gleichzeitigkeit. Dafür hat Andy Bauer eine Prioritätenliste: „Zuerst die Profis, dann die Amateure, die Jugendfußballer, dann Basketball und die Fußball-Frauen.“

 

Aber wie kam es zu dieser Besessenheit? „Man steigert sich da rein“, sagt Bauer, „vielleicht, weil alle gegen Bayern sind.“ Er ist ein echter Bayern-Fan, und weil er weiß, daß ihn das nicht beliebt macht, sagt er: „Ich würde sie mir auch in der vierten Liga anschauen.“ Weil das nicht passieren wird, schaut er sich die zweite Frauen-Mannschaft an. Die Amateure. Die Basketballspieler. Es klingt unlogisch und ist doch logisch. Vielleicht die einzige Möglichkeit für einen Bayern-Fan, die Hingabe zu demonstrieren, die erforderlich ist, um als Fan anerkannt zu sein.

 

Vielleicht ist es das, vielleicht auch nicht. Andy Bauer ist das ohnehin egal. Hauptsache, er ist immer dort, wo der FC Bayern ist. „Wir haben unsere Heimspiele auf 16.30 Uhr verlegt, damit sie dabei sein können“, sagt Dominik Blanz, der stellvertretende Leiter der Basketball-Abteilung. Dazu mußte man das Einverständnis aller Gegner einholen. Spricht Blanz über Bauer, dann voller Bewunderung: „Zwar kann ich mir auch nicht erklären, warum er das macht, aber es ist faszinierend.“ Schließlich sei Bauer weder „dumpfbackig“ noch „einer, der nichts anderes im Leben hat“; schließlich brauche man schon eine gewisse Intelligenz und Gewitztheit, um „das alles logistisch auf die Beine zu stellen“.

 

Die Frage, ob er nichts anderes im Leben hat, wird  beantwortet durch den Lebenssinn, den er findet. Die Woche und der Monat haben Struktur, die Freizeit ist genutzt, der Fanklub ist die Familie. In einer Zeit, da soziale Sicherungen wegbrechen, geben ihm Spielpläne die Sicherheit. Eine Freundin hat Andy Bauer natürlich nicht, „das wäre interessant“, sagt er und lacht. Er weiß, daß er sein Leben keinem zumuten kann. Er weiß auch, daß er erklären müßte, was er nicht erklären kann.

 

Die Nähe zu den Spielern ist auch ein Grund, warum er so gerne die Randsportler im FC Bayern besucht. „Profis und Fans kommen nicht zusammen“, sagt er: „Wenn ich hier mit Giovane Elber sitzen würde, dann wüßte ich nicht, was ich mit ihm reden sollte. Und er wohl auch nicht.“ Beim Basketball plaudert er nach dem Spiel mit Trainer Andy Wagner und bespricht die Mitreisegelegenheiten für die kommenden Spiele.

 

„De-fense“ brüllen die zehn Fußball-Fans durch die überheizte Turnhalle. Das Publikum ist derlei nicht gewohnt, Fußballstimmung in der Kaffee-und-Kuchen-Atmosphäre einer unterklassigen Randsportart. Ein Vater und seine Tochter gucken irritiert, andere schauen belustigt. „Auf geht’s, Bayern, auf geht’s!“ Bei jedem Korb springt Andy Bauer hoch und klatscht in die Hände. Das Mobiltelefon fiepst. „E-Jugend nur Siebter in Rosenheim“, murmelt er mit Blick aufs Display. Ein Kumpel ist dort, „auch so’n Kranker“, sagt er. Noch ein Erklärungsversuch: „Die großen Siege, die kann man erst richtig einschätzen, wenn man all die tristen Spiele gesehen hat.“ Außerdem habe man „Riesenerlebnisse“, auf den Auswärtsfahrten und „einen deutschlandweiten Bekanntenkreis“. Wochenendtickets, Mitfahrzentrale, Flüge für 25 Euro nach Düsseldorf oder trampen – bei Reisen hat Bauer Phantasie. Erlebnisse, Freunde, Struktur. Je länger man mit ihm spricht, desto weniger verrückt kommt einem vor, was er tut. Man versteht ihn sogar. Aber nur ein bißchen.