April 2004 / CHAMPIONS / Interview

Der freie Mann

Interview mit Franz Beckenbauer: Der Talisman des deutschen Fußballs erzählt Detlef Dresslein, dass er Fouls beging und an einem Karrieresprung scheiterte. Nicht zu glauben ...

Der Kaiser ist spät dran. Um 16.30 Uhr sollte er da sein, jetzt ist es schon kurz nach fünf, als die Tür zum gastraum im Hotel Rebstock in Schonach aufgerissen wird und Franz Beckenbauer hereintritt. Er musste auf dem Privatflugplatz von Lahr landen, danach fast eine Stunde durch dunkle und verschneite Schwarzwaldstraßen hierher gefahren werden. Die Lokalzeitung wird morgen eine halbe Seite zu diesem Ereignis bringen – und zwar über den Mann, der die Ehre hatte, den Kaiser durch den Schwarzwald zu chauffieren. Bis nach Schonach, einem Wintersportdörfchen mit 4.000 Einwohnern. Ans Ende der Welt, also.

 

Viel Zeit hat Franz Beckenbauer nicht, für eine Tasse Kaffee nur oder zwei, bevor es hinübergeht ins 500 Meter entfernte „Haus des Gastes“, wo er zusammen mit Wolfgang Niersbach, dem Vizepräsidenten des Organisationskomitees der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, vor der Jahreshauptversammlung des Verbandes deutscher Sportjournalisten den Stand der Dinge zum Besten geben wird. Hier wird sich Beckenbauer wie immer präsentieren: als charmanter, unverbindlicher, aber stets amüsanter Plauderer, der auch beim tausendsten Gespräch so frisch und freundlich ist wie beim ersten. Ein Naturtalent der Öffentlichkeitsarbeit.

 

Vor diesem x-ten Pflichttermin in Sachen WM 2006 gibt er Champions ein Interview, in einem fast leeren Gastraum tief im Schwarzwald. Am Tisch sitzen noch Wolfgang Niersbach, zwei seiner Mitarbeiter und der Bürgermeister von Schonach. So einen prominenten Gast hatten sie hier noch nie. Beckenbauer sagt, er finde es toll hier, werde aber wohl nicht wiederkommen, schließlich sei das hier ein Wintersportort und er lebe doch in Kitzbühel, mitten in den österreichischen Alpen. Zwischendurch isst er ein Stück Erdbeerkuchen und trägt sich ins Gästebuch des Gasthofes ein, unterschreibt aber unter Wolfgang Niersbach, den das ärgert. Es gibt doch schließlich Hierarchien! Beckenbauer kontert: „Eben. Du bist der Ältere.“ Und wieder hat er seinen Sympathie-Lacherfolg. Ein Journalist sagte mal über ihn, der gerne viel redet, dass sich zwischen all seinen Anekdoten auch manchmal ein wenig Information verstecke.

 

Damit hat er es immerhin zur unangefochtenen Instanz in Deutschland und der ganzen Welt gebracht. Im Fußball sowieso, denn nicht wenige sehen ihn als kommenden FIFA-Präsidenten. Manche gar als idealen Bundespräsidenten. Mit seiner Nonchalance gewann er Weltmeisterschaften und Frauenherzen. Fehltritte nimmt man ihm nicht übel, nicht mal, wenn er im katholischen Bayern Vater von zwei Kindern wird, deren Mutter aber nicht seine Frau ist. „Der liebe Gott freut sich über jedes Kind“, sagte er und lachte. Die Sache war erledigt.

 

Die Zeit drängt während des Interviews, was Beckenbauer nicht weiter beeindruckt. Er beantwortet alle Fragen routiniert, ohne lange zu überlegen, aber auch ohne jede Vorsicht oder Angst, er könne etwas Falsches sagen. Denn „falsch“ und „richtig“, das sind Kategorien für normale Leute, nicht für Kaiser.

 

Wie bewerten Sie den aktuellen Zustand des deutschen Fußballs?

 

Man braucht doch bloß nachlesen in der Weltrangliste, da sind wir nicht mal unter den ersten zehn. Das war mal anders. Wir sind zur Zeit nicht in der Weltspitze. Man sieht das auch an den Ergebnissen. Zwar wurden wir Vizeweltmeister, hatten aber Schwierigkeiten mit der Qualifikation gegen die Ukraine. Die Vizeweltmeisterschaft war ein großer Erfolg und wir haben uns auch recht sicher für die Europameisterschaft qualifiziert. Aber die Ergebnisse dazwischen, in Freundschaftsspielen, da haben wir seit Jahren gegen keinen Großen mehr gewinnen können, egal ob Brasilien, Argentinien, England, Spanien oder Italien. Das heißt aber nicht, dass man bei der EM nicht erfolgreich sein kann. Das kann dann wieder genauso laufen, wie bei der letzten Weltmeisterschaft.

 

Und wie geht es dem Vereinsfußball?

 

Da schaut’s gleich noch schlechter aus. Wir waren, was die Champions League betrifft, ja schon letztes Jahr in Erklärungsnotstand – die Bayern gleich in der Vorrunde raus, Leverkusen und Dortmund nach der Zwischenrunde. Auch da haben wir schon gesagt, das ist Zufall, das kann mal passieren. Aber es geht jetzt schon seit Jahren so, wir können es nicht immer aufs Pech schieben. Der deutsche Fußball ist eben im Moment nicht besser. Was wiederum im Widerspruch zu den Zuschauerzahlen steht. Einerseits wird’s immer schlechter, andererseits rennen sie dir die Bude ein.

 

Gerade im Vergleich zu Italien, Spanien und England ist Deutschland zurückgefallen. Was machen die anderen besser? Oder liegt es an den finanziellen Möglichkeiten?

 

Mehr Geld haben sie nicht, sie machen höchstens mehr Schulden. In Italien oder Spanien wären ja fast alle pleite, wenn die nicht ihre Mäzene hätten. Die leben alle über ihre Verhältnisse, das tun wir halt nicht. Deswegen werden wir aber auch nie einen Beckham, einen Figo, einen Raul oder einen Ronaldo nach Deutschland holen können.

 

Uli Hoeneß hat immer wieder den Zusammenbruch einiger Top·Klubs in Italien oder Spanien prophezeit. Kommt der irgendwann, oder wird es ewig so weitergehen?

 

Ewig vielleicht nicht, aber es ist sicherlich richtig, dass man schon lange darauf wartet. Aber es gibt dann immer wieder Lösungen, siehe Parma.

 

Wie wichtig ist für die deutschen Klubs die UEFA Champions League?

 

Enorm wichtig, schon allein für das Image. Denn die Champions League ist wie eine Europaliga, da ballen sich die großen Namen. Sportlich ist sie wichtig, weil man gegen die besten Mannschaften der Welt spielt, und finanziell natürlich auch, obwohl da die großen Zeiten vorbei sind. Aber wenn du dich einigermaßen geschickt anstellst, kannst du immer noch gutes Geld verdienen.

 

Wird der deutsche Fußball irgendwann zu alter Stärke zurückfinden?

 

Ich glaube schon. Wenn die neuen WM-Stadien in Deutschland fertig sind, dann haben wir hier eine Infrastruktur, die es sonst auf der ganzen Welt nicht gibt. Dann denke ich schon, dass vielleicht auch Superstars in die Bundesliga kommen, die sich bisher geziert haben und lieber nach Italien, England oder Spanien gingen. Es hilft schon, solche Stadien zu haben. Hoffe ich jedenfalls.

 

Was sind Ihre schönsten Europacup-Erinnerungen?

 

Die ersten Pokale waren die schönsten. 1967 der Sieg im Pokalsiegerwettbewerb in Nürnberg gegen die Glasgow Rangers und dann natürlich 1974 der erste von drei aufeinanderfolgenden Siegen im Pokal der Landesmeister. Damals gab es ein Wiederholungsspiel,das wir klar gegen Atletico Madrid gewonnen haben. Wenn du etwas zum ersten Mal gewinnst, bleibt es immer besser haften. Und die Tatsache, dass wir die Wiederholung nur erreichten, weil Katsche Schwarzenbeck im ersten Finale in der 120. Minute noch der Ausgleich gelungen ist, verstärkt den Eindruck natürlich noch.

 

Ein Jahr später, gegen Leeds, gab es umstrittene Schiedsrichterentscheidungen …

 

Ja, das stimmt. Ich kann mich erinnern, dass Leeds ein Tor geschossen hat, ich glaube durch Billy Bremner, das wegen Abseits nicht anerkannt wurde (Es war Peter Lorimer). Hinterher hat man im Fernsehen gesehen, dass es eine Fehlentscheidung war. Später habe ich noch den LeedsStürmer A1lan Clarke im Strafraum gefoult und hätte mich nicht beschweren können, wenn es dafür Elfmeter gegeben hätte. Wir sind zwar nicht massiv bevorteilt worden, aber es gab schon einige Schiedsrichterentscheidungen, die unglücklich für Leeds waren. Ihr Protest damals war also nicht ganz unbegründet.

 

Die großen Mannschaften waren Anfang der 1970er Ajax Amsterdam und Bayern München. Wie kann man sie vergleichen?

 

Wir haben Ajax, die vor uns dreimal den Landesmeister-Cup gewannen, quasi abgelöst. Das war eine Mannschaft, von der man sagte, sie spiele mit Johan Cruyff den „Fußball 2000“, das war schon großartig. Auch wenn wir ähnlich erfolgreich waren, so muss man zugeben: Der Fußball von Ajax war irgendwie spektakulärer. Wir haben eher sachlich gespielt. Deutsch eben.

 

Hat dieses Aufeinanderprallen der beiden damals erfolgreichsten europäischen Systeme ins WM-Finale von 1974 (Deutschland gegen Holland) hineingespielt?

 

Sicherlich. Im Finale 1974 waren sechs Spieler vom FC Bayern dabei und viele von Ajax. Das war schon fast wie Bayern gegen Ajax.

 

Wer ist der beste europäische Fußballer aller Zeiten?

 

Johan Cruyff. Wenn man Alfredo di Stefano Südamerika zuordnet.

 

Und die herausragenden Teamkollegen in Ihren Mannschaften?

 

Ganz klar Gerd Müller mit seiner unnachahmlichen Art, Tore zu schießen. Das hat es vorher nie gegeben und nachher auch nicht mehr. Ich kenne keinen, der mit solch einer Zuverlässigkeit die Tore geschossen hat. Einzigartig. Und dann noch Sepp Maier im Tor. Man sprach ja nicht umsonst von der Achse Maier, Beckenbauer, Müller.

 

Hatten Sie ein Vorbild?

 

Auch ganz klar: Fritz Walter. Wenn wir als Kinder auf der Straße gespielt haben, war ich immer Fritz Walter. Meine Mutter hat mir die „10“, die er immer trug, aufs Trikot genäht. Das Finale 1954, als er die deutsche Mannschaft in Bern zum Titel führte, habe ich am Radio erlebt. Es gab zwar ein paar Gasthäuser, wo ein Fernseher stand, aber die waren so voll, da hatte ich als Neunjähriger keine Chance, was zu sehen. Später haben wir das Finale dann gegen die Nachbarstraße nachgespielt. Wir haben allerdings höher als 3:2 gewonnen.

 

Sie haben die WM 2006 nach Deutschland geholt. Was bedeutet Ihnen das?

 

Nicht ich, sondern mein Team hat diese WM geholt. Ich war dabei, aber alleine kann man so einen Erfolg nicht erreichen. Ich war vielleicht der Kapitän der Bewerbungsmannschaft. Je näher jetzt das Ereignis rückt, desto begeisterter wird die Stimmung sein. Das ist ein Erlebnis, das gibt es nicht wieder. In den nächsten 50 Jahren wird in Deutschland sicherlich keine Fußball-WM mehr stattfinden. Das ist eine unglaubliche Chance, sich darzustellen, die Spiele der letzten WM wurden zusammengerechnet von 30 Milliarden Menschen gesehen. Eine Weltmeisterschaft zu holen und zu organisieren, diese Chance hat man nur einmal im Leben. Sie zu spielen und zu gewinnen, dazu gibt es mehrere Gelegenheiten. Somit ist für mich dieser Erfolg mehr wert als meine WM-Siege 1974 als Spieler und 1990 als Teamchef

 

Wie ist der Stand der Dinge?

 

Alle Projekte laufen, wir haben keine Probleme. Die Stadien sind alle im Bau und werden-rechtzeitig fertig. Läuft alles bestens.

 

Wer wird in diesem Jahr Europameister?

 

Einen direkten Topfavoriten kann ich nicht nennen. Auch die deutsche Mannschaft hat Chancen, wenn sie die Vorrunde übersteht. Es wird aber sicher einer von den großen Favoriten wie Frankreich, Spanien, Italien, Holland oder England. Ein Außenseiter hat da keine Chance.

 

Während Ihrer großen Zeit als aktiver Fußballer wagten Sie auch einmal einen sehr abwegigen Ausflug: Sie spielten im Kinofilm „Libero“ die Titelrolle. Was sind Ihre Erinnerungen an Ihr Abenteuer auf der Filmleinwand?

 

Das war meine erste Erfahrung als Schauspieler, ein richtiger abendfüllender Spielfilm. Ich habe danach aber meine Schauspielkarriere abgebrochen und mich wieder dem Fußball gewidmet. Ich glaube, das war vernünftiger. Schon allein, weil mir das Drehen viel zu ruhig war. Zwischen den Einstellungen hast du stundenlang nichts zu tun, da sind so viele Pausen drin. Ich brauche mehr Bewegung, den Spielfluss. Aber es hat Spaß gemacht, weil ich die Schauspieler alle gut kannte, das war ein wunderbares Miteinander.

 

Da dies ein internationales Magazin ist: War das Wembley-Tor ein Tor?

 

Es war sehr strittig, es gab die Diskussion zwischen Linien- und Schiedsrichter. Wobei ich bis heute nicht weiß, wie sie sich verständigt haben. Der eine war doch Schweizer, der andere ein Russe. Aber man muss fairerweise sagen – und das habe ich immer gesagt: Ob der Ball nun drin war oder nicht, England ist verdient Weltmeister geworden.