Januar 2018 / ADAC Reisemagazin / Allgemein

Feinmotorik

Die Traditionsmarke KTM hat Krisen überstanden, einen Konkurs auch und ist heute stärker denn je. Der größte Motorradhersteller Europas sitzt in Mattighofen. Mattig … wo? Ein Werksbesuch in Mattigho … also, in der oberösterreichischen Provinz

Gut, dass sie keine Haushaltsgeräte herstellen. „Durch das Produkt bekommen wir auch gute Leute von weiter weg“, sagt Thomas Schlager, „was nicht so wäre, würden wir Waschmaschinen fertigen. Das „Produkt“, das Schlager meint, ist ein Motorrad. Oder besser: einige hundert jeden Tag. Ziemlich schicke und auch ziemlich legendäre. KTM heißt die Marke, und Thomas Schlager ist dort gemäß neudeutscher Ausdrucksweise „Head Of Quality Management Engine Plant“, also dafür zuständig, dass die Motoren laufen und das Produkt, umwabert von Mythos und Historie, antreiben. Deshalb und weil es für viele auch ein Hobby ist, kommen die guten Mitarbeiter gern in die Provinz. Mehr als 3000 sind es inzwischen allein hier, und sie ersinnen und bauen eines der begehrtesten Dinge aus österreichischer Herstellung.

 

KTM ist eine durch und durch österreichische Marke, hier gegründet, immer hiergeblieben, auch in Zukunft fest verwurzelt, aber dennoch in aller Welt bekannt. Das M in KTM steht für Mattighofen, jenen sehr unauffälligen 5000-Einwohner-Ort im Bezirk Braunau. Schon 1934 gründete der Mechaniker Hans Trunkenpolz hier eine Werkstätte; 1953 begann er mit der Serienproduktion von Zweirädern, dem Alltagsgefährt der Wirtschaftswunderjahre. Der Name war schnell gefunden: Kraftfahrzeuge Trunkenpolz Mattighofen – KTM.

 

Das heutige Vorstandsmitglied Hubert Trunkenpolz, 55, ist per Namen ein Beleg für die Tradition im Unternehmen. Der Großneffe von Hans Trunkenpolz darf stolz sein auf das, was hier entstanden ist. „Stolz ja, aber noch mehr empfinde ich Freude“, sagt er. „Denn es hätte auch anders ausgehen können, wenn man sieht, wie viele Motorradfirmen verschwunden sind.“ Ein Schicksal, das auch KTM drohte. Das war um 1990, Hubert Trunkenpolz studierte da noch und betrachtete die Firma aus der Ferne, als sie „Spielball von Banken und dubiosen Investoren war “.

 

Einer, der sich an diese dunklen Tage erinnert, ist Kalman Cseh, 73. Er kam schon als junger Mann in die Firma. 1965 war das und KTM ein mittelständischer Betrieb mit rund 200 Mitarbeitern. Eine Zeit des Aufbruchs. Cseh war 21, hatte in London studiert, arbeitete in der Tourismusbranche und wollte nach Wien, in die Großstadt, wie es sich für einen polyglotten, jungen Kerl gehörte. Dann erfuhr er, dass in Mattighofen jemand gesucht wurde, der sich um die Exportmärkte kümmert. Warum nicht, dachte er – zudem nahe bei den Eltern, also daheim.

 

Es ging schnell voran. Cseh kümmerte sich um den Ausbau der Märkte in Deutschland und der Schweiz, aber auch in Portugal, Finnland und Schweden. KTM produzierte damals vor allem Mopeds und Fahrräder. Eine Begegnung auf der Mailänder Messe 1967 leitete die Mattighofener dann auf neue Wege. Der amerikanische Rennfahrer und Unternehmer John Penton suchte einen Hersteller, der ihm kleinvolumige Geländemotorräder baute. Erich Trunkenpolz, der die Firma von Vater Hans übernommen hatte, stand bereit. Ein Prototyp war schnell gebaut, Penton begeistert und 500 Stück gleich bestellt: der Beginn der KTM-Erfolgsgeschichte und Kalman Cseh mittendrin. „Ich hatte viel zu tun, war ständig unterwegs, bis nach Australien und Japan.“ 20 Jahre ging es stetig aufwärts.

 

Der Niedergang begann, als man das Bewährte verließ. Aus der sehr guten Idee, eigene Kühler zu produzieren, um unabhängig von teuren Zulieferern zu sein, entstand die sehr schlechte Idee, diese Kühler auch an andere zu liefern, etwa an die Automobilindustrie. „Das war eine ganz andere Branche mit ganz anderen Vorstellungen. Man musste investieren, brauchte teure Fachleute aus dem Ausland. Und es gab keine Zusagen der Autoindustrie“, erinnert sich Cseh, der all das mit Unbehagen beobachtete und die Firma 1987 verließ.

 

Erst im Dezember 1991 kam er zurück. Es war viel passiert in seiner Abwesenheit, was im selben Jahr im Konkurs kulminierte. „Am 23. Dezember bekam die Cross Holding im Kreisgericht Ried aus der Konkursmasse den Zuschlag für die Motorrad- und Kühlersparte“, erinnert sich Cseh, der damals auf Einladung der Holding als Berater mit im Gerichtssaal saß. Was keiner ahnte: Es war das Ende vom Ende und ein fulminanter Neustart.

 

Zu verdanken hat KTM dies dem Investor Stefan Pierer, der die Cross Holding 1986 gegründet hatte. Noch heute ist er Chef des vierköpfigen KTM-Vorstands, zu dem auch Hubert Trunkenpolz gehört, der 1998 ins Unternehmen kam. Trunkenpolz erinnert sich an einige gute Entscheidungen in dieser Umbruchzeit. Vor allem begann KTM, auch Straßenmotorräder zu bauen – was völlig neue Kundenkreise anzog. „Ein erhebliches unternehmerisches Risiko, aber die richtige Entscheidung“, sagt Hubert Trunkenpolz rückblickend. Oder in Zahlen ausgedrückt: „Als ich zu KTM gekommen bin, haben wir etwa 30 000 Motorräder im Jahr produziert. Jetzt sind’s zehnmal so viele.“

 

Das geschieht in der weitläufigen Montagehalle. An vier Linien werden hier täglich in zwei Schichten die orangefarbenen Kultobjekte zusammengeschraubt. Die Teile werden teilweise zugeliefert (oft von Betrieben aus der direkten Nachbarschaft), sehr vieles aber produziert man selbst. Die vier Linien bestehen aus 17 Einzelstationen. An der ersten findet die „Hochzeit“ statt, hier werden Rahmen und Motor zusammengeführt. Dann wächst das Motorrad an jeder Station um weitere Teile: Federbein und Krümmer (Station 3), Bremsanlage und Kupplung (Station 7), Räder (Station 11), Kotflügel (Station 13) bis zur Sitzbank (Station 17).

 

Am Ende geht’s drei Meter hinüber in die Qualitätsendkontrolle, und dann werden die neugeborenen Zweiräder auch schon in Kisten verpackt. Bei einer Taktzeit von drei Minuten (auch 1:50 wären möglich) ist so ein Zweirad in weniger als einer Stunde komplett montiert.

 

Franz Linecker ist als Vorarbeiter der Linie 3 der Chef von 86 Monteuren. Er trägt das typische KTM-Shirt in Schwarz, sein „Leiberl“, das er natürlich auch „draußen“ gern anhat. In Braunau geboren, lernte er Tischler, machte eine Umschulung zum Mechaniker und fuhr in der Freizeit gern Motorrad. Mit dieser Biografie landet man hier fast zwangsläufig in der Stallhofener Straße. 2001, damals war er 20 Jahre alt, fing er an der Linie an. Bald wurde er Springer, das heißt, er hatte alle Handgriffe an jeder der 17 Stationen drauf, sodass er überall eingesetzt werden konnte. Schließlich beförderte man ihn zum Vorarbeiter. „Wenn man aus der Gegend kommt, ist man stolz auf KTM“, sagt Franz Linecker, der wie viele hier nie den Arbeitgeber wechseln würde.

 

Das wichtigste Einzelteil für Lineckers Leute ist der Motor. Auch den baut KTM in Eigenregie, unter der Aufsicht von Thomas Schlager und seinem Team. Schlager schraubt zu Hause auch mal ein Küchengerät auf, um dessen Zustand zu prüfen. Er kann nicht anders. „Man wird sehr pingelig und betrachtet alles ein bisschen genauer“, sagt er. Das gilt vor allem an seinem Arbeitsplatz. „Wir wollen einen fehlerfreien Motor“, so umreißt der 47-Jährige die Philosophie. Damit das so gut es geht gelingt, kommen täglich verschiedene Bauteile aus den 19 Bearbeitungszonen im Motorenwerk zu Kontrollen in die hochmodernen Prüfgeräte.

 

Das Motorenwerk steht in Munderfing, ein paar hundert Meter die Salzburger Straße hinab, Richtung Süden. Dort befindet sich auch das Logistikzentrum – und seit 2016 auf 18 000 Quadratmetern die Motorsportabteilung, ein gezackter, weißer Quader mit schwarzen Fensterfronten. Sportlich war man schon immer aktiv, aber seit 2017 startet KTM auch in der MotoGP, mithin so etwas wie die Formel 1 des Motorradsports. Doch das ist längst nicht alles. Nebendran wuchert schon die nächste Baustelle: das House of Brands wächst mehrstöckig in die Höhe. Hier sollen ab Sommer 2018 die Verkaufs- und Marketingteams für alle Welt arbeiten, schließlich ist KTM mittlerweile in mehr als 80 Nationen aktiv.

 

Ein Bekenntnis zum Standort nennt man das wohl in der Welt der Wirtschaft. Für Hubert Trunkenpolz eine Selbstverständlichkeit: „Es ist einfach ein hervorragender Standort, denn es gibt hier Motorradbau in der vierten Generation. Das ist wie bei den Uhrmachern in der Schweiz, hier wird Wissen weitergegeben.“

 

Dabei werden in Mattighofen derzeit nicht nur Motorräder gebaut. Im Ortskern entsteht die World of KTM, das Firmenmuseum, das Ende 2018 fertig sein und dann jährlich an die 30 000 Besucher anlocken soll. Natürlich, räumt Hubert Trunkenpolz ein, habe man auch über andere Standorte nachgedacht. Orte, die besser an die gängigen Pfade des Tourismus oder wenigstens an eine Autobahn oder einen Flughafen angebunden sind. All das eben, was Mattighofen nicht hat.

 

Aber letztlich siegte der Idealismus. „Das war unser Geschenk an die Gemeinde und wird sicher ein ganz großer wirtschaftlicher Impuls werden.“ Kein Wunder, wäre es doch „Mattighofens einzige wirkliche Touristenattraktion“, wie Trunkenpolz lächelnd einräumt. Er selbst hat sein Büro ganz oben im Hauptquartier, das im KTM-Orange an der Stallhofener Straße leuchtet. Wenn er aus dem Fenster schaut, blendet ihn manchmal das Silber der in der Sonne leuchtenden Fassade der Entwicklungsabteilung gegenüber.

 

Es läuft in Mattighofen. Das war nicht immer so. „Noch in den Achtzigerjahren war das Innviertel ein wirtschaftliches Notstandsgebiet“, erinnert sich Kalman Cseh. Heute kommen die Leute aus Linz oder Bayern zum Arbeiten in die Gegend. Dank KTM, heute Europas größter Motorradhersteller, und Männern wie Hubert Trunkenpolz, Franz Linecker, Thomas Schlager oder Kalman Cseh, die alle hier geboren, hier geblieben oder zurückgekehrt sind. Trotz „einiger Nachteile“, die Thomas Schlager gern einräumt. Andererseits: „Die Ruhe ist auch wieder schön.“