August 2007 / PLAYBOY / Text

Canal Grande

Der Hauptschullehrer Christof Wandratsch ist einer der härtesten Leistungsschwimmer der Welt. Jetzt will er Geschichte schreiben: Als erster Mensch will er den Ärmelkanal in weniger als sieben Stunden durchqueren

„Shit“, brüllt Christof Wandratsch, während ihm das eisige Salzwasser in den Mund läuft, „das ist zum Kotzen, ich will hier raus!“

 

Sein Trainer Stefan Hetzer ignoriert ihn, als habe er gar nicht hingehört. „Schöööön, Christof, guuuut so“, antwortet er dann. Oder: „Halt’s Maul, schwimm weiter.“ Im Ärmelkanal wird nicht blumig gesprochen – nicht, wenn man auf Rekordjagd unterwegs ist. In weniger als sieben Stunden will Christof Wandratsch die 33 Kilometer zwischen Dover und Calais durchschwimmen.

 

Schneller als jeder Mensch vor ihm.

 

Hetzer ist der Mann, der ihm dabei helfen soll. Einer aus der alten DDR-Schule. Er hat schon Olympiasieger „produziert“, wie er selbst es nennt. „Kanal ist wie in den Krieg ziehen“, sagt er, „da weiß man nicht, was einen erwartet oder ob man den Nervendruck aushält.“

 

Die 33 Kilometer zwischen Dover und Calais sind eiskalt und strömungsreich. Es ist die meistbefahrene Wasserstraße der Welt – und für Schwimmer der größte Mythos, den ihr Sport zu bieten hat. „Den muss man gemacht haben“, sagt Christof Wandratsch. Den Weltrekord von sieben Stunden, drei Minuten und 52 Sekunden hält er seit 2005. Jetzt will er sich selbst unterbieten. Ohne Hilfsmittel und ohne Neoprenanzug. Erlaubt ist nur ein Badeanzug, die Arme und Beine des Schwimmers müssen frei bleiben.

 

Wandratsch ist 40 Jahre alt und einer der besten Langstreckenschwimmer der Welt. Je ungewöhnlicher die Stecke, desto besser wird er. Der gebürtige Mittelfranke lebt seit 15 Jahren in Burghausen, wo er als Hauptschullehrer arbeitet. Wie es sich für einen echten Franken gehört, spricht er nur dann, wenn’s unbedingt sein muss. Er ist ein wenig pausbäckig, auch an den Hüften etwas füllig: wegen der Fettreserven, die er dringend braucht für das, was er vorhat. Im Wasser wird aus dem unscheinbaren Lehrer einer mit „Killerinstinkt“, wie es Trainer Stefan Hetzer ausdrückt.

 

Wandratsch hat alles erlebt. Die „normalen“ Sachen wie etwa 15 Weltcup-Siege im Langstreckenschwimmen. Er wurde deutscher Meister, Europameister, Weltmeister. Und er hat die irren Sachen gemacht. Ist 88 Kilometer durch den Río Paraná in Brasilien geschwommen, in Weltrekordzeit ums Kap der Guten Hoffnung, von einem Weltmeer ins andere. Im Juni hat er, quasi nebenbei, einen neuen Weltrekord für die Straße von Gibraltar zwischen Spanien und Marokko aufgestellt. Aber die Königsdisziplin ist und bleibt der Ärmelkanal.

 

„Du Arschloch, wo bleibt meine Banane?“, brüllt Wandratsch mit nassen und nasalen Worten. „Was für mich eine Minute ist, kommt Christof wie eine Stunde vor“, sagt Hetzer verständnisvoll. Zwischen Coach und Krauler geht es manchmal ruppig zu. Wenn es Hetzer zu blöd wird, wirft er seinem Schützling schon mal einen Pappbecher an den Kopf. Denn auch für ihn ist so eine Kanalquerung harte Arbeit. Sieben Stunden Hochspannung, Dauerbewegung, Dauerquasseln. „Motivieren, manipulieren, sanktionieren“, das sei sein Job. Hetzer kann ziemlich schnell reden. Man muss sich schon sehr konzentrieren, um seinen Monologen zu folgen – er sächselt auf fastforward. Wenn Wandratsch in Frankreich ans Ufer krabbelt, hat Hetzer genau wie er vier Kilo abgenommen, ist heiser und hat tagelang Kopfschmerzen.

 

Wandratsch motiviert das: „Was er sacht, hör ich zwar ned“, sagt er, „aber’s wär dödlich, wenn er im Boot sitzt und Zeitung liesd.“ Hetzer weiß: „Das ist wie bei einer Katze, die versteht mich auch nicht, aber sie weiß genau, was ich meine.“ Die Nachrichten, die Wandratsch erreichen sollen, schreibt Hetzer ihm mit abwaschbarem Filzstift auf eine weiße Tafel. Die Zeit, seine Schlagfrequenz, aber auch Aufputsch-Botschaften wie Erinnerungen an vergangene Triumphe und bestandene Herausforderungen. Dann schreibt er: „Santa Fe 2003“. „Wien 1995“. „Frankenpower“. „Denk an Mama.“

 

Der Wahnsinn, den Ärmelkanal nur in der Badehose zu durchschwimmen, begann 1875. Seitdem fndet auf Englands Kreidefelsen jeden Sommer der gleiche Tumult statt. Aus aller Welt reisen sie an, die Infizierten. Wer sich in den Kopf gesetzt hat, den Ärmelkanal zu durchschwimmen, der probiert es auch. Sein Leben lang. Tragödien haben sich abgespielt auf diesem Flecken Weltmeer. Manche sind ertrunken, weil sie dachten, es geht auch ohne Begleitboot. Manche mussten nach zehn, zwanzig Stunden kurz vor dem Ziel aufgeben, weil die Gezeitenströmung die letzten hundert Meter nicht mehr zuließ.

 

Vor 132 Jahren durchschwamm der legendenumspülte Kapitän Matthew Webb in 22 Stunden als Erster das etwa 16 Grad kalte Wasser. Er hatte die Strömung falsch berechnet und war deswegen 70 Kilometer geschwommen. Die „Times“ titelte seinerzeit, was Webb getan habe, sei mit den Heldentaten von Herkules vergleichbar. Webb selbst war darob auch kaum bescheiden und verkündete, dass es wohl nach ihm kein Zweiter mehr schaffen würde. Er war fortan als Stuntman unterwegs. Acht Jahre nach der Kanalpremiere bot man ihm 12.000 Pfund (nach heutigem Wert über eine Million Euro) dafür, die Niagarafälle hinabzuschwimmen. Er ließ sich überreden. Seine Leiche fand man nach vier Tagen.

 

Natürlich blieb Webb nicht der Einzige, wenngleich der Kreis der Kanalschwimmer bis heute ein sehr exklusiver ist. Knapp 600 haben es seither überhaupt geschafft, und auch dieses Jahr werden nur wenige dazukommen. Sie reisen aus der Südsee hierher, aus Tschechien oder Australien. Sie versuchen es allein, in Vierer- oder Sechserstaffeln. Und sie warten. Tagelang, oft wochenlang. Sie warten auf gutes Wetter. Manchmal geht ein Sommer vorbei, ohne dass etwas passiert. Dann kommen sie im Jahr darauf wieder.

 

Für 1500 Pfund bekommt man zwischen Dover und Folkestone ein Begleitboot und zwei Schiedsrichter, alles muss ja seine Richtigkeit habe. Das gilt auch für Wandratsch, obwohl der Star der Szene Sonderrechte genießt: Sie werden ihn anrufen, wenn das Wetter passt, dann fliegt er hin und startet. Wie immer man sich den härtesten Schwimmer der Welt vorstellt, als Mischung aus Dolph Lundgren und Lance Armstrong – Wandratsch ist das ziemliche Gegenteil davon. In Zivil und mit seiner runden Brille sieht er eher aus wie Peter Lustig in Jung.

 

Gestärkt durch sein Wettkampf-Frühstück – Rührei (hält lange vor), Weißbrot mit Honig (ist leicht verdaulich) und Kaffee (muss einfach sein) –, stand er damals in der Dämmerung am Shakespeare Beach. „Du weißt, wenn die Sirene ertönt, dann geht es los, dann rennst du rein in das schwarze große Nichts vor dir“, sagt Wandratsch mit leichtem Zittern in den Stimmbändern. So wird es diesmal wieder sein. „Das Schlimmste ist der Gedanke, dass ich jetzt wieder sieben Stunden schwimmen muss und nicht ausruhen kann.“ Sobald er das Boot berührt, so sind die Regeln, ist der Rekord verloren.

 

Wie gut, dass das Wasser so viele Balken hat. Meistens jedenfalls. Er drückt sich mit der flachen Hand an dem Widerstand ab, hangelt sich Meter um Meter nach vorn. Das ideale Wassergefühl. Manchmal allerdings ist es nicht da. „Das ist dann der Wahnsinn“, sagt er, dann fühlt er sich, als könne er gar nicht schwimmen. Wenn es gut läuft, dann drückt sich Christof Wandratsch von einem Balken zum nächsten, Schlagfrequenz 80, 84 oder auch mal 90 pro Minute. Fünf Stunden lang, sieben Stunden lang, manchmal auch zwölf. Irgendeine Zeitung nannte ihn „Kraulmaschine“.

 

Wandratsch schwimmt durch ölverdreckte Meere, hellbraune Flüsse, tiefschwarze Seen. Im Río Paraná trieb mal eine tote Kuh an ihm vorbei. Im Ärmelkanal, sagt er, ist es erstaunlich sauber. Außer gammligen Plastiktüten und leeren Flaschen begegnete er nur mal einer Euro-Palette. „Wenn du dagegen stößt, isses aus“, sagt er. Wie gut, dass Wasser so viele Balken hat. Und so wenig Euro-Paletten.

 

Die Quallen allerdings sind ein Problem. Einer kann er ausweichen, einem ganzen Schwarm nicht. „Wenn du zu viele Verbrennungen hast, kannst du Krämpfe kriegen. Das ist doof“, sagt Wandratsch in teilnahmslosem Tonfall. Unterwegs ist Essen wichtig. Alle zwanzig Minuten strecken sie ihm mit einem ausfahrbaren Stab einen Becher Kohlenhydratmix hin. Ab und zu ein Stück Banane oder Pfirsich, das stärkt. Die fruchtige Süße übermalt wenigstens kurz den ekligen Salzwassergeschmack. Und auch das Trinken darf er nie vergessen – trotz der Wassermassen, die ihn umgeben.

 

Stefan Hetzer lobt seine „phänomenale mentale Stärke“. Im Wasser „denke ich nur an das Rennen, an nichts anderes“, sagt Wandratsch. Hetzer teilt die monströse Strecke in Blöcke ein, in Intervalle, die sein Schwimmer der Reihe nach abhaken kann. Das hilft der Psyche. Die allein reicht nicht, um die Schmerzen in den Schultern und den Oberarmen in den Griff zu kriegen. Manchmal geht es nicht ohne Pharmaka, die er von Hetzer lautstark anfordert: „Schmerztablette, schnell.“

 

Die letzten zwei Stunden wird es kritisch. Hetzer gibt ihm Etappen vor: zehn Minuten Tempo machen – durchhalten – nur bis da vorn noch. Doch Wandratsch protestiert auf seine typische Art. „Mann, leck mich am Arsch, mir ist kalt, und da vorn ist es genauso kalt. Ich mag nimmer“, schreit er verzweifelt. Und krault weiter, maschinengleich.

 

Wenn er zu viel Salzwasser schluckt, muss er sich übergeben. Und krault dabei weiter im Takt. Auch alle Arten von Stuhlgang erledigt er, ohne zu unterbrechen. „Man lässt einfach laufen“, sagt er stoisch fränkisch. Dann kriegt er halt einen Becher warmes Wasser, zur Magenberuhigung, und weiter geht’s. In der letzten Stunde gibt es alle zehn Minuten ein paar Schluck Cola. Keinen Tee, „da muss man die siebenfache Menge pinkeln“, sagt Wandratsch.

 

Das Silikonfett, mit dem er sich eingeschmiert hat, ist allenfalls ein psychischer Wärmeschutz. Physisch ist Körperfett am allerbesten. Deshalb lebt Wandratsch seit einem halben Jahr auf Kanaldiät: viele Nüsse, Öl über den Salat, Erdnussbutter und Nutella aufs Brot. „Und in der Pause zwei, drei Leberkäs-Semmeln, abends ein Glas Rotwein, das setzt auch ganz gut an“, sagt er. Von den sieben, acht Kilo, die er sich zulegt, merkt er im Wasser ja nur ein Zehntel. Das kennt man aus dem Physikunterricht.

 

Kanalschwimmer sind eine besondere Art Schwimmer. „Das ist nicht so wie im Becken“, sagt Wandratsch. Man pflege eine gewisse Rivalität. Die einen gelten als Spinner, die anderen als Weicheier.

 

Dabei ist Wandratsch selbst eher wasserscheu. Im offenen Meer schwimmt er nur, solange er stehen kann – weiter raus nur mit Begleitboot. Und auch wenn er daheim frühmorgens um sechs in den Wöhrsee – 16,5 Grad Celsius – zum Abhärtungstraining muss, ist er nicht immer der Mutigste. „Ich bewundere die alten Leute, die da reinspringen, als hätte es 30 Grad“, sagt der härteste Schwimmer der Welt.

 

Zentimeter um Zentimeter tastet sich Wandratsch ins Wasser. Erst die Zehen, dann der Fuß, bis zum Knie, die Arme keusch vor der Brust verschränkt. Dann wird diskutiert. Hetzer sagt, er soll reingehen. Wandratsch sagt, er will nicht, es sei ihm zu kalt.

 

Einmal ging das zwei Stunden so. Dann stieg Wandratsch wieder aus dem Wasser.