August 2007 / PLAYBOY / Text

Der Welt-Torhüter

Lutz Pfannenstiel hat zwar noch nie in der Bundesliga gespielt, sonst aber fast überall. Jetzt will er Fußballgeschichte schreiben – als erster Profi, der auf allen Kontinenten der Erde gespielt hat

Vom Tag, an dem er starb, erzählt er gern. Am liebsten mit dem Unterton eines Abenteurers, der genau weiß, dass seine Geschichte für Gänsehaut sorgt. An Weihnachten vor sechs Jahren war’s. Kalt war’s und regnerisch im mittelenglischen Bradford. Lutz Pfannenstiel spricht hektisch, so wie fast alles an ihm irgendwie rastlos wirkt: das Sitzen, das Sprechen, die Blicke. Er erzählt, wie ihm der Gegenspieler das Knie in den Oberbauch rammte und wie er bunte Farben sah, die sich wie in einem Kaleidoskop drehten. Dass er im Krankenhaus wieder aufwachte. Und erst abends im Fernsehen sah, was eigentlich passiert war.

 

Er sah den Zusammenprall, den Physiotherapeuten, der versuchte, ihn zu reanimieren, und die weißgelbe Flüssigkeit, die aus seinem Mundwinkel rann. Er sah die Zuschauer, als der Physiotherapeut brüllte: „He’s dead, he’s fucking dead.“ Und er sah seinen Trainer, der heulte wie ein Kind. Dreimal war er weg. Dreimal holte ihn der Physiotherapeut zurück. Zurück in ein Leben, das außergewöhnlicher kaum sein könnte. Lutz Pfannenstiel will bald der erste Fußballprofi sein, der auf allen Kontinenten dieser Welt angestellt war. Ein Rekord für die Ewigkeit. Nur Südamerika fehlt noch, aber die Verhandlungen laufen bereits. Im nächsten Jahr, so hofft er, könnte es klappen.

 

In Argentinien. Dann ist er der weitestgereiste Torhüter der Welt – der einzig wahre Welttorhüter. Lutz Pfannenstiel wurde 1973 in Zwiesel geboren. Lange tat sich nichts Besonderes. Er spielte Fußball, ging zur Schule, fuhr in den Ferien mit den Eltern an die Adria. Mit 17 wechselte er ins Jugendteam von Bayern München und stand sogar im Kader der Jugendnationalmannschaft. Er hätte den normalen Weg gehen können: Nachwuchsteams, Reserve, Bundesliga-Profi. Aber den Lehrlingsvertrag beim FC Bayern wollte er nicht unterschreiben. Er wollte sofort Profi werden. Es gab ein Angebot. Aus Malaysia. Er ging hin. Seit 13 Jahren kann die Mama nun schon nicht mehr richtig schlafen, weil ihr Lutz das tut, was er tut.

 

Seit seinem 18. Lebensjahr hat er keine deutschsprachige Freundin mehr gehabt. Seit Jahren passt sein Leben in ein paar Sporttaschen. Er bringt immer nur Klamotten und ein paar persönliche Sachen mit, den Rest stellt der Verein. Die Wohnung ist komplett eingerichtet, vom DVD-Player bis zum Dosenöffner. In Indonesien schaffte er es fast in die Nationalmannschaft. Weil gute Torhüter in Asien selten sind – erst recht solche mit 1,90 Metern –, wollten sie ihn einbürgern. Er hätte in Jakarta vor 100.000 Zuschauern gespielt. Aber die Scheidung von seiner indonesischen Frau verhinderte das. Die Frauen sind ein ganz eigenes Kapitel in seinem unkonventionellen Lebenslauf. Seine chinesische Ex bestand auf einem Schultertattoo. Sie wollte „Ich liebe dich“, er konnte sie auf „Liebe“ runterhandeln.

 

Jetzt liebt er Amalia aus Usbekistan. Anfangs war er nicht besonders nett zu ihr. Rief sie nachts um drei an, weil er dem Taxifahrer in Kiew nicht erklären konnte, wohin er wollte. Aber das war nun mal ihr Job. 24 Stunden am Tag sollte sie ihm als Dolmetscherin zur Verfügung stehen.

 

Sein Verein hieß Volyn Lutsk. Kiew, das war schön, ein bisschen wie München. Trotzdem blieb er nur drei Monate. Auch wegen der seltsamen Methoden dort. Der Trainer ohrfeigte seine Spieler. Die 100 Agenten, die Pfannenstiel inzwischen kennt, geben den Rhythmus vor. Er wählt das beste Angebot, sportlich und finanziell. Egal wo. Deshalb ging er – bis auf ein Jahr in Burghausen – nie mehr nach Deutschland zurück. Das Ausland war immer spannender. Und lukrativer. Mal bleibt Pfannenstiel nur ein paar Monate, mal ein Jahr oder zwei. So wie in Valkeakoski, wo er finnischer Meister wurde. Dagegen war ein Monat Malta für ihn mehr als genug, in dieser „Hammel-Liga“. Auch in Johannesburg hielt er es nicht länger aus als zwei Monate. Auf dem Weg zum Training musste er sich als Weißer auf dem Beifahrersitz ducken, damit man ihn nicht sehen konnte. Bei den Spielen der Orlando Pirates in Soweto haben sie ihn beschimpft. Und mit Colaflaschen beworfen. Nur wenn er – der einzige Weiße im Team – überragend hielt, ließen sie ihn in Ruhe.

 

Er wohnte im „Holiday Inn“. Dort sagte man ihm, er solle selbst tagsüber nicht spazieren gehen. Er lernte diese britische Rucksacktouristin kennen, die später allein das Hotel verließ, obwohl der Concierge sie gewarnt hatte. Zwei Tage später fand man sie. Ermordet, von 27 Männern vergewaltigt. In Asien dagegen würde er jederzeit wieder anheuern. Wenn diese Sache in Singapur nicht passiert wäre. Er war dort ein Star. Wurde auf der Straße erkannt und hatte regelmäßig Auftritte in Sportsendungen. Aber eines Tages kamen die Männer von der Korruptionspolizei und brachten ihn weg. Der Vorwurf: Spielmanipulation, Bestechung. Das Absurde daran: Pfannenstiel sollte Geld bekommen haben, nicht etwa, damit er absichtlich verliert, sondern damit er gewinnt.

 

Die Vernehmung lief ab wie in einem schlechten Film: Er musste sich ausziehen. Dann drehten sie die Klimaanlage auf zehn Grad runter. Sie klemmten seine Finger in der Schublade ein. Sie brüllten ihm ins Ohr und schlugen ihn ins Gesicht. Zwölf Stunden lang.

 

Es war ein Riesenprozess, mit mehr als 100 Journalisten aus aller Welt. Die Richterin war erst 27 und sehr nervös. Sie wollte alles richtig machen. Sie sagte, er habe extra gut gehalten, besser, als er eigentlich könne. Pfannenstiel konnte nicht fassen, was mit ihm passierte. Er fragte die Richterin, ob sie je ein Fußballspiel gesehen habe. Während des Prozesses kam er auf Kaution raus. Es wäre leicht gewesen, sich mit falschen Papieren nach Thailand abzusetzen. Pfannenstiel wollte nicht. Das hätte wie ein Geständnis ausgesehen. Das Urteil lautete auf 14 Wochen Gefängnis. Schlafen konnte er in der Zelle kaum. Nicht, weil er sich ohne Kopfkissen auf einen Betonboden legen musste oder weil die Latrine so stank. Es waren die Albträume, die ihn am Schlafen hinderten. Wegen einer Exekution, die er einmal mit angesehen hatte. Jeden Freitag, fünf Uhr morgens auf dem Innenhof, wurden Gefangene getötet. Das Bild der drei Männer, die am Strick hingen, wollte nicht mehr verschwinden. Als er aus dem Gefängnis kam, brauchte er sechs Monate, bis er nachts nicht mehr schweißgebadet hochschreckte. Damals wollte er mit dem Fußball aufhören, heim nach Zwiesel. Etwas Bodenständiges anfangen. Aber dann überredete ihn ein Agent, in Bradford auszuhelfen. Dort starb er fast.

 

Pfannenstiel ist jetzt 34. Momentan spielt er wieder in Norwegens zweiter Liga, weil es zuletzt als Spielertrainer bei Bentonit Idjevan in Armenien nach ein paar Monaten schnell zu Ende war. Dem Verein war das Geld ausgegangen. Wenn die Knochen irgendwann nicht mehr mitmachen, will er als Agent arbeiten oder eine Fußballschule eröffnen. In Neuseeland. Dort, wo er bei Otago United sogar einen eigenen Fanclub hatte. Oder in Kanada, wo es sich auch gut leben ließ. Besser jedenfalls als bei seiner vorletzten Station. Das war Vllaznia Shkoder, erste Liga Albanien. Ein Albtraum. Näheres will Pfannenstiel darüber nicht erzählen. Denn das könnte Ärger geben.