Oktober 2009 / PLAYBOY / Text

Krieg um Leipzig

Lok und Sachsen: Die beiden Clubs in der sächsischen Metropole hassen sich bis aufs Blut. Doch jetzt haben sie einen gemeinsamen Feind: das „Projekt“ Red Bull. Es will mit viel Geld und klebriger Limonade in Leipzig einen neuen Champions-League-Club heranzüchten. Ein Frontbericht aus der 5. Liga

Draußen vor dem Stadion rennt ein Zehnjähriger zu seinen Eltern. Er trägt Grün-Weiß am Körper, in seiner Stimme liegt Entzücken: „Ich wurde schon beleidigt“, sagt er stolz. Die Eltern nicken zufrieden, als hätte der Knirps erzählt, dass er sich erstmals die Schuhe allein gebunden hat.

 

Es ist Lokalderby in Leipzig. Grün-Weiß sind die Farben des FC Sachsen aus dem Stadtteil Leutzsch. Der Arbeiterverein, früher unter dem Namen BSG Chemie bekannt, für die Fans heißt er noch heute so. Der größtmögliche Gegensatz kommt aus Leipzig-Probstheida, ist blaugelb und heißt 1. FC Lok Leipzig. In der DDR der Verein der Parteibonzen.

 

Im Derby entlädt sich eine Rivalität, die schärfer, gnadenloser ist als irgendwo sonst in der Republik: „So wie hier ist es nirgends“, sagt Fan Uwe Herziger, der Vorsitzende des Fanclub-Verbands des FC Sachsen Leipzig, „das ist Hass. Der blanke Hass.“ Begegnungen der beiden Lager erinnern an Bürgerkrieg. Der erste Zaun in einem deutschen Stadion wurde in Leipzig gebaut, 1965 im Chemie-Stadion in Leipzig-Leutzsch. Auch den 27. August 1983 wird hier so schnell niemand vergessen, da eskalierte die Rivalität: 300 wutschnaubende Lokisten versprengten 1000 Chemiker in der wohl größten Massenschlägerei, die die Stadt je gesehen hatte. Im Buch „Von Athen nach Althen“ des Szenekenners Thomas Franke wird ein namenloser Lok-Fan zitiert, ein Stimmungsbild jener Zeit: „Wir nahmen uns jedes Haus einzeln vor, in jeden Scheißkeller stiegen wir, holten die raus und haben die zusammengefaltet.“ Der Tiefpunkt.

 

Nach der Wende kamen Sozialfrust und sportliche Erfolglosigkeit hinzu – das machte den Hass nicht kleiner. Im Februar 2007 zogen marodierende Lok-Hooligans durch die Innenstadt. Sie jagten Polizisten durch die Straßen, es gab Schusswechsel, demolierte Einsatzwagen, und 39 Polizisten blieben schwer verletzt zurück. Im Dezember desselben Jahres überfielen Hooligans die Weihnachtsfeier der linken „Diablos“ in der Vereinskaschemme „Sachsenstube“. Dass keiner getötet wurde: reiner Zufall.

 

In den Fanblocks tummeln sich Rechte und Linke, Nazis und Ultras, Hooligans und Kommunisten. Der FC Sachsen litt lange am Krieg im eigenen Fanblock, den Schlachten zwischen den extrem linken Ultras und den Rechten. „Nur zwei davon sind aber Nazis“, beruhigt Sachsen-Fan Herziger. „Wir sind im Osten, wir sind in Leipzig“, sagt er, „hier hast du Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität, und die jungen Leute wollen ihre Aggressionen rauslassen.“ Die Empfehlungen des Jugendamts findet er auch nicht gerade hilfreich: „Wir sollen Gewalttäter und Rechtsradikale nicht mehr betreuen. Das ist doch hirnrissig. Wir sind doch gerade dafür da, die wieder hinzubiegen.“ Aber er weiß auch, dass viele frustrierte Jugendliche den Hass zwischen den Fans für Gewaltexzesse ausnutzen. Zum Schaden der Clubs.

 

Nirgendwo in der Fußballrepublik hassen sich zwei Fanlager so innig wie die des FC Sachsen und des 1. FC Lok Leipzig. Und plötzlich stehen sie zusammen auf einer Seite, mit ihrem Herzblut, ihrer Fanromantik, ihrem Misserfolg. Denn in Leipzig hat die eisgekühlte, zuckrig-klebrige Zukunft des deutschen Fußballs begonnen. Der Getränkekonzern Red Bull möchte im großen Fußball reüssieren. Und wie das ein Konzern eben so macht, hat er sich ein Konzept zurechtgelegt, einen Businessplan, Ziele und eine Kosten-Nutzen-Strategie. Die zwei Traditionsvereine, innig im Hass vereint, gegen das Projekt Red Bull: Es wird eine Saison der Extreme in der NOFV-Oberliga, Gruppe Süd.

 

Als sei ein Ufo gelandet: Ein ausrangierter Lkw-Aufleger aus der Formel 1 ist das mobile Büro, drinnen schafft bläuliches Neonlicht eine surreale Stimmung. Laptops auf weißen Schreibtischen, an der Wand zwei fast mannshohe Getränkedosen. In der Ecke Umzugskartons mit Fanartikeln. Es gibt Schals, Kappen und Tshirts. Das Sortiment wird noch erweitert.

 

Die Mitarbeiter blicken scheu auf Eindringlinge. Fragen solle man sie nicht, wird mitgeteilt. „Bei uns steht die Dose im Vordergrund und nicht der Mitarbeiter“, sagt Jürgen Eckstein, ein drahtiger Dreißiger mit alpenländischem Akzent.

 

Das Ufo heißt Red Bull, und es hat sich Markranstädt auserkoren. 15 Kilometer von Leipzig entfernt, vorbei an Käffern wie Dölzig und Priesteblich, an halb fertigen Windrädern und verfallenen Vorkriegshäusern. Hier wirken die smarten Red-Bull-Lifestyle-Typen wie Teile aus dem falschen Puzzle: dasselbe Prinzip, passt aber nicht. „Ich bin mit den schlimmsten Befürchtungen ins Flugzeug gestiegen“, sagt Eckstein über sein Ankommen hier und lächelt zaghaft. Es soll ein Scherz sein.

 

Pressesprecher Hansgeorg Felder stellt klar: „Wir müssen mit Budgets umgehen und können hier nicht wie Prinz Karneval das Geld rauswerfen.“ Die Rede ist von 100 Millionen in zehn Jahren. Ein Dutzend Profis wurde angeheuert. Der prominenteste ist Ingo Hertzsch, 32. Er spielte sogar zweimal für Deutschland. Und nun 5. Liga. Hertzsch sagt: „Ich will einfach nur Fußball spielen, egal, in welcher Liga.“

 

Bisher war es so einfach hier: Chemie gegen Lok, Grün-Weiß gegen Blau-Gelb, Assis gegen Snobs. Jetzt sind beide im Niedergang vereint. Der FC Sachsen wirtschaftete sich trotz der gut 15 Millionen von Kino-Unternehmer Michael Kölmel in die Pleite, stieg im Sommer in die Fünftklassigkeit ab. Das einzige Saisonziel: einen weiteren Abstieg vermeiden.

 

Sachsen-Mann Uwe Herziger, 48, hat traurige Dackelaugen und Mehrtagebart. Auf seinen Armen verblassen drei Tattoos. Rechts eine Nackte, links eine Rose und ein Wappen der BSG Chemie. „Jugendsünden“, knurrt er. Jahrzehntelang folgt er seinen Grün-Weißen, so oft man sie auch umbenannt hat. Ob nun Chemie, Grün-Weiß oder eben Sachsen, ob erste, zweite, dritte oder nun fünfte Liga. „Einmal Leutzscher, immer Leutzscher“, sagt er. Einmal war er auch im Zentralstadion. Europapokal. „Da hab ich Maradona spielen sehen“, sagt er und blickt hinüber auf die frisch gestrichenen Schalensitze. Mit dem Blick, der sagt: vorbei. Dennoch – im Sommer richteten sie ihr Stadion her, den Alfred-Kunze-Sportpark, erneuerten herausgerissene Sitzschalen, strichen alles in frischem Grün und Weiß. „Am ersten Tag standen 40 Freiwillige da, waren froh, was zu tun zu haben.“ Der Verein hätte nichts bezahlen können, er durchlebt gerade die zweite Insolvenz.

 

Zwei Insolvenzen hat auch Lok, das sich nach der Wende VfB Leipzig nannte, hinter sich. Die zweite war tödlich, 2004 wurde der Verein aufgelöst. Endgültig, eigentlich. Doch einige Fans, darunter der bekennende Ex-Hooligan Steffen Kubald gründeten den 1. FC Lok, und der startete in der untersten Liga, der 3. Kreisklasse Leipzig. Mit grandiosem Erfolg: Zum ersten Spiel gegen Böhlitz-Ehrenberg erwartete man 300 Fans, hoffte auf 700. Bei 1000 gingen die Eintrittskarten aus, bei 5000 hörte man auf zu zählen. Lok-Stürmer René Heusel, der in jener Saison Torschützenkönig wurde, erinnert sich: „Es war wie in der DDR, wenn es frische Bananen oder Pfirsiche gab.“

 

Aber dann geriet Lok immer wieder bundesweit in die Schlagzeilen. Unter die Nostalgiker mischten sich Rechtsradikale und Hooligans und verdarben Lok den Ruf. Jetzt muss Kubald, als Vorsitzender, „den Spagat schaffen zwischen Fansein und Verantwortung“.

 

Keine leichte Aufgabe: dass mal versucht wurde, auf der Tribüne ein Hakenkreuz zu formen? Kubald wiegelt ab: „Die wollten das Präsidium ärgern. Und nur mit viel Fantasie ist da ein Hakenkreuz zu erkennen.“ Dass Unbekannte die Weihnachtsfeier der „Diablos“, der linksorientierten Ultra-Gruppe des FC Sachsen, niederprügelten? „Was irgendwelche Kriminelle außerhalb des Stadions machen, ist Sache der Polizei.“ Kubald antwortet mit der Gelassenheit, die weit über hundert Kilo – verteilt auf 1,90 Meter – verleihen.

 

Im Bruno-Plache-Stadion des 1. FC Lok haben viele Randalierer und Rechtsextreme Stadionverbot. „Wir haben in den letzten Jahren gute Arbeit geleistet“, sagt Kubald, „haben Zivilcourage bewiesen und uns von denen getrennt.“ Lok hat sich vielleicht von den Nazis getrennt. Aber nicht die Nazis von Lok. Denn bei Auswärtsspielen sind sie nicht zu kontrollieren. Ein polizeibekannter Rechter war früher für den Verkauf der Fanartikel zuständig, ein anderer für das Internet-Radio. Kubald sagt, er könne ja nicht das Parteibuch jedes Zuschauers kontrollieren. Und außerhalb des Vereins gebe es kaum Handhabe. So kommt es vor, dass die NPD vor dem Stadion Kugelschreiber und Aufkleber verteilt und politische Agitation bei den Fans betreibt. Dort wird sie gehört. Es gab Transparente, auf denen stand: „Wir sind Lokisten, Mörder und Faschisten.“

 

Auch wenn er früher wohl zu oft weggesehen hat – Kubald kämpft tapfer für einen sauberen Club. Er mag das alles nicht mehr hören. „Schreiben Sie doch mal über unsere hervorragende Jugendarbeit.“ Oder darüber, dass man einen Weltrekord aufstellte, beim Spiel gegen Großdeuben: 12.150 Zuschauer, mehr kamen noch nie zu einem Spiel der untersten Liga, weltweit.

 

Alles in allem also eine ziemlich verfahrene Lage in Leipzig. Eine Situation, die Red Bull lockte: eine Stadt mitten in der Republik, mit einer halben Million Einwohnern, Flughafen und Autobahn, mit WM-Stadion und weitläufigem Umland.

 

Der ideale Standort.

 

Abgeordnet wurde Andreas Sadlo, 41, gebürtig in Kitzbühel, früherer Spielerberater und Manager des FC Tirol Innsbruck. Ein hagerer Mann, Typ Marathonläufer, mit hohlen Wangen unterm Dreitagebart. Er lacht wenig und wird nicht gern fotografiert. Alles hier erweckt den Anschein einer Geheimveranstaltung, Sadlo immerhin gibt Auskunft. Spricht stets von dem „Projekt“ und formt Sätze wie aus einer Imagebroschüre: „Wir haben uns die Standorte Berlin und Düsseldorf angesehen und glauben, dass Leipzig für so ein Projekt perfekt geeignet ist.“ Oder: „Was uns auszeichnet, ist die Langfristigkeit, mit der wir Projekte angehen.“ Oder: „Wir machen kein Sponsoring, wir betreiben den Sport selbst.“

 

Seit über einem Jahr ist er mit dem „Projekt“ zugange. Er sondierte den Markt, beobachtete viele Oberliga-Spiele, „um einen Eindruck zu bekommen von der fußballerischen Qualität“. Und erkor schließlich den SSV Markranstädt aus für den Take-over. Die Übernahme war freundlich – man spricht von der überzeugenden Kraft von 350.000 Euro im Jahr –, aber konsequent. Das Produkt, das Red Bull dafür erhielt: die erste Mannschaft samt Platz in der Oberliga, dazu Reserve- und Jugendmannschaften. Alles das heißt nun RB Leipzig, offiziell „RasenBallsport“ – werbliche Vereinsnamen sind in Deutschland untersagt – die dürfen nur Clubs wie Bayer Leverkusen oder Carl Zeiss Jena tragen, die traditionell so heißen, weil sie einst als Werksportclubs gegründet wurden. Der Aufstieg ist für RB Pflicht, er steht im Businessplan. Spätestens ab der 3. Liga wird man ins Zentralstadion umziehen, die einzige brachliegende Arena der WM 2006.

 

„Fußball gucken und sich nicht Köpfe einschlagen: Das ist, was die Leute wollen“, sagt Toni Freytag, 26, einer der unpolitischen Fans in der Stadt. Und einer der wenigen RB-Fans. Er hat die L.E. Bulls gegründet, den ersten Fanclub des Retortenvereins. Dass man ihn und seine 30 Kollegen im Fanblock anfeindet – egal. Er will stressfreie Nachmittage mit gutem Fußball.

 

Die traditionellen Anhänger halten nicht viel von RB: Vor dem ersten Spiel hoben sie ein Grab aus, nagelten ein Holzkreuz zusammen mit der Aufschrift: „Hier stirbt der Fußball.“ Beim Spiel in Jena pöbelten sie die Spieler an, bespuckten sie. „Das Feindbild verlagert sich – Richtung RB“, sagt Lok-Mann Kubald.

 

Er sieht die Situation gelassen. „Red Bull hat in der Formel 1 was gerissen, und die fliegen mit Flugzeugen durch Pylonen“, sagt er. Aber Fußball? „Da wird niemand klein beigeben, nur weil Red Bull kommt.“ Auch Herziger, der Grün-Weiße, ist sich sicher: „Die werden sich umgucken, wie es in Auerbach oder Pößneck auf die Socken gibt.“