Juli 2009 / PLAYBOY / Text

Oh, wie schön ist Tschernobyl

Vorn wird gelächelt, dahinter wartet die Sehenswürdigkeit. Ob vor dem Eiffelturm in Paris oder auf der Spanischen Treppe in Rom. Selbst wenn der Reisebus einen weltberühmten Ort in der Ukraine ansteuert, ist das nicht anders: Tschernobyl.

Der Himmel, gestern noch strahlend blau, ballt graue Wolken zusammen. Trotzdem ist heute kein schlechter Tag für eine Fahrt ins Blaue. Neun Uhr morgens, im Zentrum von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. 46 Touristen aus ganz Europa sitzen im Mercedes-Reisebus und sind gespannt. Nach einer kräftigen Rückkopplung raunzt Sergei Ivanchuk ins Busmikrofon: „Es geht nach Tschernobyl.“ Mitten ins militärische Sperrgebiet. Schon seit sechs Jahren veranstaltet Ivanchuk als Chef des Kiewer Reisebüros Solo East Travel diese Kaffeefahrten.

 

Und lockt damit ein breites Publikum an: Ökoaktivisten; Leute, die bremsen, wenn auf der Gegenspur ein schlimmer Unfall zu bestaunen ist; ganz normale Touristen. 145 Dollar haben sie für die Fahrt nach Tschernobyl im klimatisierten Reisebus bezahlt. Es geht bis direkt zum Reaktor 4 des vormaligen Kernkraftwerks. Mit anschließendem Besuch der verlassenen Stadt Pripjat und einem kleinen Lunch.

 

Spanier, Schotten, Schweden, Finnen – die Stimmung im Bus ist übermütig aufgeregt. New York, Freiheitsstatue – da war jeder schon. Paris, Eiffelturm auch. Aber Tschernobyl, wer hat das schon in seinem Fotoalbum? Tschernobyl: der Ort, der bis heute für das nukleare Grauen steht. Für das Versagen der Technik, für das Versagen der Sowjetunion oder für das Versagen des Menschen – je nachdem, wie man das sehen will. Oder, wie Reiseführer Sergei sagt, für das, „was passieren kann, wenn jemand den falschen Knopf drückt“.

 

Der Mittdreißiger, eine Mischung aus Popeye und Kirmesboxer, rattert routiniert die Fakten der größten Technikkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts herunter: Am 26. April 1986, kurz nach Mitternacht, gerät hier vieles außer Kontrolle. Ein Sicherheitstest ist anberaumt, Routine, aber irgendwo hakt die Technik. Obwohl alle Warnsysteme zur sofortigen Abschaltung mahnen und der Schichtleiter abbrechen will, besteht der stellvertretende Chefingenieur Anatoli Djatlow darauf, den Test durchzuziehen. Er will nicht wieder von vorn beginnen. Um 1.23 Uhr kommt es zur atomaren Kettenreaktion und zur Explosion. 250 Tonnen Grafit verbrennen, radioaktives Jod-131 und Cäsium-137 werden über die Wolken Tausende Kilometer weit getragen. Der Super-GAU ist eingetreten.

 

Die Landschaft auf den 130 Kilometern zwischen Kiew und Tschernobyl ist unspektakulär. Ein Österreicher erklärt der Gattin aufgeregt die Landkarte: „Die Städte in Klammern sind alle verlassen.“ Noch zweieinhalb Stunden bis zum Checkpoint. Wir holpern über zernarbte Straßen, hinter rußenden Lkws und Ladas aus der Stalin-Zeit. Die Sowjetunion, hier lebt sie noch. An der Straße stehen Mütterchen in Reihe und verkaufen Blumen und Kartoffeln aus Plastikeimern. Der erste Checkpoint. Ab hier ist Sperrgebiet, ein 30-Kilometer-Radius um den Unglücksreaktor. 200.000 Menschen wurden evakuiert und umgesiedelt, drei Städte und 92 Dörfer. Jetzt leben hier wieder 3000 Menschen. Weitere 3000 werden täglich hergekarrt, um die Ruine zu verwalten.

 

Ankunft in jenem Dorf, das den Namen der Katastrophe trägt, Tschernobyl. Es beherbergt heute die Arbeiter und Wissenschaftler, weil der Ort weniger belastet ist als die meisten anderen Dörfer in der Umgebung. „Keine Souvenirs mitnehmen“, mahnt Sergei. Vor dem Einsteigen in den Bus sollen wir die Schuhe nur abklopfen und den strahlenden Staub nicht in die Sohlen reiben.

 

Am Straßenrand steht ein Denkmal, sowjetisch, kitschig, grau. Es ist den 28 Männern der Werksfeuerwehr gewidmet, die sich in jener Aprilnacht 1986 den Flammen entgegengeworfen haben. Sie sind längst tot, Leukämie. „Zwei Minuten Fotopause“, brummt Sergei. Die Kameras klicken. Es herrscht glucksende Vorfreude, bald sind wir da, am Reaktor Nummer 4. Zigarette aus, die Schuhe abgeklopft, weiter geht’s. Nach dem zweiten Checkpoint wird es immer verwilderter. Im inneren Ring haben Zivilisten nichts verloren. Gänseblümchen und Schafgarbe sprießen hier im Überfluss. All die kleinen dreieckigen gelben Schildchen mit den Zeichen für Radioaktivität können sie nicht lesen. Zwischen Flora und Fauna ein Kanal, die Rudimente von Reaktor 5 und 6 bauen sich vor uns auf. Hier sollte mal das größte Kernkraftwerk der Welt entstehen, zehn Reaktorblöcke. Übrig geblieben sind Betonruinen und ein paar rostige Kräne. Wir fahren an der Längsseite des Reaktors entlang. Eine riesige Fabrik des Grauens, von Zeit und Regen und Schnee in alle möglichen Grautöne getüncht. Selbst der Himmel hat sich angepasst. Im Bus steigt der Lärmpegel, aus den hinteren Reihen ertönen „Oohs“ und „Aahs“. Zeigefinger deuten hinaus. Ein Norweger fühlt sich an seine Bustour nach Auschwitz erinnert. Auch das ein gängiges Touristenziel.

 

Der Bus stoppt hundert Meter vom Sarkophag entfernt, dem Betonschutzmantel um die Reaktorruine. Die Hülle haben seinerzeit ahnungslose Arbeiter und Soldaten zusammengeschustert und über die Jahre immer nur leidlich geflickt. Es bröckelt und rostet. Sollte die Hülle einstürzen, würde eine radioaktive Staubwolke die Region erneut kontaminieren. Aber die Ukraine hat kein Geld – und der Westen hat das Problem offenbar vergessen.

 

Sergei erzählt, dass im Innern noch einige Ingenieure arbeiten, immer nur kurze Zeit, so lange, bis das Dosimeter rebelliert. Wer sich zehn Stunden dort aufhält, stirbt. In ein paar Meter Entfernung aber, dort, wo wir stehen, ist die Strahlung nur leicht erhöht, nicht bedrohlich. Ein Franzose hat extra sein eigenes Messgerät dabei – er ist enttäuscht: Im Flugzeug nach New York war die Strahlung höher. Auch andere haben Geigerzähler dabei und vergleichen ihre Messwerte. Wie hoch die Belastung ist, hängt davon ab, wie schlimm der radioaktive Niederschlag im April und Mai 1986 war. Es gibt Gegenden in Weißrussland, Hunderte Kilometer entfernt, in denen die Belastung vielfach höher ist als direkt am Reaktor.

 

Beeindruckender als der Reaktor selbst ist es zu sehen, was er angerichtet hat – etwa in Pripjat, der 1970 erbauten Stadt, die die Arbeiter des Atomkraftwerks beherbergte und die im Volksmund nur „Atomgrad“ hieß. Wohnungen waren so gut wie umsonst, es gab ein Einkaufszentrum, ein modernes Hallenbad, Schulen. Die Stadt war eine der jüngsten und lebendigsten in der Sowjetunion, eine Art nukleares Schlaraffenland. Erst Tage nach der Explosion in Reaktor 4 hat man die 48.000-Einwohner-Stadt geräumt. Man hat den Pripjatern vorgelogen, sie könnten bald zurückkehren. Doch niemand ist zurückgekehrt – außer den Plünderern. Sie räumten die Kühlschränke und Fernseher raus – hochkontaminiert – und verhökerten sie in der ganzen Sowjetunion. Nur was niet- und nagelfest war, rottet seitdem vor sich hin. Ein gigantisches Freilandexperiment. Die Natur holt sich zurück, was der Mensch ihr einst nahm. Der Lenin-Boulevard: ein schmaler Waldweg, den der Bus gerade so befahren kann. Die Plattenbauten: zugewachsen mit dichtem Urwald. Im Hallenbad gähnt die Leere des Tauchbeckens unter dem Sprungturm. In der Grundschule, wo einst die kleinen Pripjater zu ordentlichen Parteigenossen erzogen wurden, vergilben die Bücher. Auf einer schimmligen Tafel mahnt ein Comic-Wolf vor den Gefahren der Elektrizität. Auf dem Basketballfeld regieren jetzt die Birken. Pripjat – das Pompeji des Atomzeitalters.

 

Die Bushupe röhrt, wir müssen weiter. Es geht zurück zum äußeren Checkpoint, alle müssen noch auf ein Messgerät steigen. Grünes Licht, wir sind sauber und dürfen zurück nach Kiew. Morgen geht’s weiter, die einen machen Sightseeing in Kiew, andere fahren auf die Krim. Wieder andere nach Paris, Florenz oder Stockholm. Sehenswertes fotografieren. Tschernobyl ist ja jetzt im Album.