Mai 2017 / ADAC Reisemagazin / Text

Nichts zu verbergen

Die norwegische Band Kakkmaddafakka ist mittlerweile weltbekannt. Einmal im Jahr spielt sie in ihrer Heimatstadt Bergen, und das ist dann fast so was wie ein Familienabend

Unten am Hafen sammeln sich an diesem Samstagabend eigentümliche Gestalten. Vor dem Kulturzentrum USF Verftet, einer ehemaligen Sardinenfabrik, warten sie seit Stunden. Junge, smart gekleidete und frisierte Menschen, die so gar nichts von der Grobschlächtigkeit von Matrosen oder Hafenarbeitern haben. Es wird gelacht und getuschelt. Denn die Band, die das Land aufrührt, Kakkmaddafakka, spielt heute in ihrer Heimatstadt Bergen. Das tut sie nur einmal im Jahr – mit ihrem einzigartigen Sound, der es schafft, gleichzeitig fröhlich und melancholisch zu klingen. Und damit so gut zu Bergen passt.

 

Alle, die heute in der Stadt nur zu Gast sind, können die Zeit nutzen, um sich umzusehen. Oder etwas mehr. Denn Bergen ist nicht nur für die Augen interessant, man kann es riechen, hören und spüren. Eine Stadt für alle Sinne sozusagen. In schlechten Reisereportagen oder -führern würden sofort die klassischen Adjektive erscheinen – pittoresk, malerisch, tiefblau (Meer) oder -grün (die Bergwälder drum herum). Und ja, das ist die Innenstadt von Bergen wohl im herkömmlich touristischen Sinne, und deshalb legen hier auch die Kreuzfahrtschiffe an und die Hurtigruten-Fähren ab. Bergen ist aber noch viel mehr als diese Kulisse. Das erlebt man, wenn man sich darauf einlässt. Mit etwas Zeit. Und allen Sinnen.

 

Zunächst ist da das meistverlangte Postkartenmotiv: unten blauschwarzes Wasser, in dem sich rot, weiß und orange die Fassaden von Bryggen spiegeln, darüber die Häuserwände selbst und dann die Berge, dunkelgrün bewaldet. Das alte Hanseviertel ist UNESCO-Welterbe, das immer wieder niedergebrannt ist, zuletzt 1955. Kein Wunder, bei so viel Holz in enger Bauweise. Gleichmütig hat man es immer wieder aufgebaut. Bryggen sehen ist Pflicht.

 

Wenn man das Glück hat, an einem sonnigen Tag durch Bergen zu spazieren, dann fällt auch der Geruch auf. Hier Gebackenes, dort der Duft von frischem Fisch. Von weiter hinten weht sonnengewärmte Seeluft herbei. Es stinkt nirgends, nicht nach Hausmüll oder Abgasen oder seltsamen Parfums, wie in manch anderer Stadt. Da zeigt sich der Vorteil, dass Bergen nicht nur am, sondern im Meer liegt. Auf Landzungen, die weit ins Wasser hineinragen.

 

Und man kann Bergen eben auch hören. Damit ist nicht nur das erfreulich leise Grundrauschen aus Möwen-und Kindergeschrei gemeint, etwa in der Fußgängerzone, der breiten Torgallmenningen, wo man sitzen und die Menschen beobachten kann. Rund um diese Straße ist Bergen urban – keine Holzhäuser und engen Gassen, sondern architektonische Feinheiten. Wie das Kaufhaus Sundt, ein 1938 entstandener Bau des Architekten Per Grieg im Bauhausstil. Faszinierend viel Glas und spannende Kantigkeit.

 

Grieg? Da war doch was? Edvard Grieg (1843–1907), Norwegens großer Komponist, geboren und gestorben in Bergen. Er ist einer der Gründe, warum man Bergen auch hören kann. Axel Vindenes ist ebenfalls in Bergen geboren, auch er ist Norwegens berühmtester Musiker – zumindest 2017. Er ist Frontmann der Band Kakkmaddafakka, die als erfolgreichster Popexport des Landes gilt und jedes Jahr durch Deutschland, Spanien oder Mexiko tourt.

 

Im USF Verftet wird es langsam ernst. Rechts von der Bühne führt ein Gang zum Backstagebereich, in dem sich seit Stunden die Jungs herumdrücken. Allen voran die Brüder Axel und Pål Vindenes, Gründungsmitglieder, Masterminds und Gesichter der Band. „Es ist der härteste Gig, denn hier kennen uns alle, es fehlt das Überraschende“, sagt Axel Vindenes.

 

Die Freundinnen der sechs Bandmitglieder lümmeln sich auf Sofas, denn hier, heute und daheim, das ist Familienabend. Selten genug. Nette Mädels sind das, vom Typ Lehramtsstudentin – keine Models oder Groupies. Um kurz nach acht öffnet sich die Tür, und ein Mann ruft: „It’s showtime!“ Dann geht alles ganz schnell. Die Champions-League-Hymne dudelt durch den dunklen Konzertsaal, einzeln gehen sie auf die Bühne, ein Instrument nach dem anderen beginnt zu spielen, immer mehr Töne und Takte des Lieds „Touching“. Schließlich hüpft Axel Vindenes als Letzter zu lautem Gejohle wie ein Gummiball nach vorn. Es ist Showtime, und die Jugend von Bergen tanzt zum Sound ihrer Stadt, der bereits die ganze Welt begeistert.

 

Axel Vindenes käme nie auf die Idee wegzuziehen. Er mag den „Lifestyle“ der Stadt, die kurzen Wege. „Morgens gehe ich auf den Berg und bin in der Wildnis, wenig später kann ich im Stadtzentrum beim Lunch sitzen“, erzählt er. Man könne gar nichts verpassen, weil alles, was passiere, in der Nähe sei. „Und dieses Wissen gibt uns eine entspannte Haltung. Wenn du nah am Zentrum bist, dann bist du nah dran an der Magie.“ In der Tat sollte man sich Bergen erlaufen. Das ist kein Problem, denn alles in der Stadt ist sehr konzentriert. Niemals käme man auf die Idee, es handele sich um die zweitgrößte Stadt des Landes. Bergen hat zwar mehr als eine Viertelmillion Einwohner, aber die verteilen sich im Wesentlichen auf die Außenbezirke.

 

Bergens Zentrum ist sehr, nun ja, bergig, man braucht gutes Schuhwerk und eine gewisse alpine Trittsicherheit, wenn man durch die Bullerbü-Gässchen mit dem Kopfsteinpflaster, den Treppchen und abschüssigen Straßen von Vierteln wie Nøstet oder Stølen mäandert. Viele Holzhäuser sind dick angestrichen in Gelb, Blau oder Rot. Das ist derart puppenstubenhaft, dass man versteht, warum Norwegen nie aggressiv oder kriegerisch wirkt, sondern immer friedlich und freundlich.

 

Nur einmal benutzt man nicht die Füße: Sieben Minuten dauert die Fahrt mit der Fløibahn auf den Fløyen, 320 Meter hoch. Von hier blickt man auf die miniaturisierte Stadt, erkennt mühelos die Orte, die man eben noch in Groß gesehen hat. Man erkennt auch, wie weit sich die Stadt an reichlich bewaldeten Bergrücken und durch Täler ins Hinterland schiebt. Es sitzt sich gut auf den sonnengewärmten Granitstufen oder im Café. Dahinter geht es in die Wildnis, die Vindenes meint. Das ist wunderbar. Wenn die Sonne scheint.

 

Bergen aber zählt zu den regenreichsten Städten Europas. Das wird schon bei einem Blick in die Schuhgeschäfte deutlich, in denen Gummistiefel sehr prominent neben Sneakers und Pumps ausgestellt sind. Axel Vindenes gibt zu, dass er wohl nur hier leben könne, weil er auch viel reise. „Sieben Monate ist es düster und diesig, das kann sehr deprimierend sein.“ Aber auch: „Es ist wie Yin und Yang. So rau es ist, so großartig kann es sein.“ Wie im Mai, wenn es aufhört zu regnen und heller wird: „Dann haben wir bessere Vibrations als Rio, dann spielen die Leute verrückt, alle kommen raus und feiern.“

 

Wenn es regnet, spielen die Kinder drinnen, dann findet vieles in Bergen im Haus statt. In den Omacafés, in denen man sitzen und ein Buch lesen kann; oder man geht ins Aquarium, ins Kunstmuseum Kode oder ins Theater, das älteste Norwegens. Hier hat Vindenes mit zwölf Jahren den „Michel aus Lönneberga“ gespielt, Astrid Lindgrens Lausbub-Prototyp, dem ständig Unfug einfiel. Er wurde gefeuert, weil er sogar für diese Rolle zu frech war.

 

Klein, blond, frech und doch mit einem melancholisch-verregneten Zug um die Augen – so wie Axel Vindenes ist auch Bergen, und so ist die Musik. „Weil wir ständig schlechtes Wetter haben, sind die Leute gut darin, sich selbst zu unterhalten“, sagt Vindenes. Also gehen sie in Clubs und Übungsräume und machen Musik. „Musik ist heilsam bei schlechtem Wetter.“

 

So geht es hier vielen Musikern, und deshalb wird in den Bars und Musikkneipen die „Bergensbølgen“ („Bergen Wave“) gemacht, die Musik der Stadt, die weit über Norwegen hinaus bekannt ist. Bands wie Röyksopp oder Kings of Convenience (mit dem Tonbastler Erlend Øye) kommen von hier – seit Jahren überragt von den Jungs von Kakkmaddafakka. Das Wort „Wave“, Welle, passt Axel Vindenes gar nicht, „es ist eher ein Fluss oder eine Strömung, denn von hier kommt ständig neue, gute Musik“. Die vielen Künstler in der Stadt, sagt Vindenes, befeuerten sich gegenseitig. „Es ist wie ein Kreislauf. Es werden gute Leute angelockt, und gute Leute helfen anderen, nach oben zu kommen. Ein gesunder Wettbewerb, ganz ohne Neid und Missgunst.“

 

Und wenn man ihn fragt, warum Kakkmaddafakka so erfolgreich ist, dann antwortet er: „Because we are touched by God“ – von Gott berührt. Er meint es wohl ernst, ein bisschen zumindest. Denn die Menschen in Bergen, so sagt man im Rest des Landes, litten ein wenig unter dem Kleiner-Bruder-Syndrom, müssten immer etwas frecher und großspuriger sein, um sich neben Oslo zu profilieren.

 

Nach dem Konzert sind im Backstagebereich alle zufrieden. „Wir sind gerade in großartiger Form, das wird ziemlich gut“, hatte Axel Vindenes vorher noch versichert. Das Publikum war begeistert. Nun kommen noch die Eltern der Musiker herein, die sich ja auch nur einmal im Jahr ein Bild davon machen können, was ihre Kinder beruflich so machen. Trotz des Besuchs steht Pål Vindenes in orangefarbener Unterhose herum. Keiner stört sich daran. Er ist ja auch nur so ein kleiner Bruder.