Juni 2012 / NISSAN MAGAZIN / Text

Unser Star für Le Mans

Der Nissan DeltaWing ist die Neuerfindung des Motorsports: günstiger, umweltfreundlicher und doch schnell. Beim legendärsten 24-Stunden-Rennen soll er bald zeigen, was er kann.

Berücksichtigt man die Umstände, so wirkt Ben Bowlby recht frisch und munter. „Seit einem Jahr habe ich nicht geschlafen. Ich bin erschöpft“, sagt der kleine und stets fröhliche Brite, der physiognomisch irgendwo zwischen Chris de Burgh und Elton John liegt. Er hatte eben schlicht keine Zeit für derlei Nebensächlichkeiten wie Schlafen und Essen oder für seine Frau und die drei Kinder. Schließlich gelang Bowlby innerhalb weniger Monate eine Revolution – er hat mal eben den Rennsport neu erfunden.

 

Gut, das mag auch wieder etwas übertrieben sein, aber sein DeltaWing sorgt für ziemliches Aufsehen in der Branche. Die Metaphernmaschine lief schon seit der Enthüllung erster Entwürfe 2010 auf hohen Touren. Ein Batmobil, natürlich, weil es schwarz ist und so herrlich untypisch aussieht. Aber die Form  erinnert auch an das Space Shuttle, die Concorde, an einen dieser Hochgeschwindigkeitsrenner, die in amerikanischen Salzseen Rekorde jagen. Wenn man will, kann man in der Form auch etwas Phallisches sehen. Und sollte man bäuchlings und Auge in Auge vor dem DeltaWing liegen, dann funkelt er einen an wie eine erzürnte Giftschlange. Eines ist also gewiss: Dieses Rennauto regt die Fantasie an – und die Szene auf. Das ist schon mal ein Ziel, das Ben Bowlby erreicht hat.

 

Denn ein wenig Wirbel hatte er schon im Sinn, als er im August 2008 mit der Entwicklung seines Projektes begann, weil die Macher der amerikanischen IndyCar-Rennserie für 2012 ein neues Fahrzeugkonzept einführen wollten und nach praktikablen Ideen suchten. Als man sich dort 2010 dagegen entschied, war der DeltaWing aber schon nicht mehr zu stoppen und Bowlby fand schon bald einen neuen Partner: Don Panoz, schillernde Figur in der US-amerikanischen Rennsportszene und Gründer der „American Le Mans Series“.

 

Wieder zurück ins Jahr 2008. Anfangs dachte Bowlby gar nicht daran, die äußere Form zu revolutionieren. „Wir wollten ein konventionelles Auto bauen, aber die gewünschte Performance war damit nicht zu erzielen“, sagt er. Gewünscht war nicht weniger als Top-Speed bei halbem Verbrauch. Und für Le Mans heißt das: eine durchschnittliche Geschwindigkeit von rund 230 km/h und bis zu 340 Sachen in der Spitze. Bowlby störte sich aber schon lange an dem technologischen Wahnsinn im Rennsport. „Ich habe gehört, dass ein Team einen Frontflügel entwickelt hat, der aus 38 Teilen besteht. Nur der Frontflügel“, sagt er und grinst britisch zurückhaltend – bevor er noch einmal erwähnt, dass die gesamte Karosserie des DeltaWing aus exakt sechs Komponenten zusammengesetzt ist. Sechs Teile. Mehr nicht. Und einen Frontflügel hat er erst gar nicht.

 

Entscheidend für die Revolution war Bowlbys Umdenken in Sachen Form. Wenn man, so überlegte er, die Vorderräder ganz nahe zusammenrückt, würde das zu einer Form führen, die das Auto förmlich durch die Luft flutschen lassen würde. Zudem wären die schmalen Vorderräder nur zehn Zentimeter breit und hätten damit nur etwas mehr als ein Viertel der Fläche herkömmlicher Reifen. Das wiederum reduziert den Rollwiderstand.

 

Wie immer jedoch war alles zunächst Berechnung. Am Computer simulierten Bowlby und seine drei Mitarbeiter herum, und als man dachte, man sei der Idealform recht nahe, da ärgerte sich der Chef erstmal richtig. „Als ich die Werte analysierte, war mir klar, dass da irgendwas falsch war“, erzählt Bowlby. Also noch mal von vorn und noch mal. Aber immer wieder kam man zum gleichen Ergebnis. Die unfassbaren Zahlen schienen zu stimmen. Und irgendwann war klar: Mit dieser Form kann man bei gleicher Leistung den Verbrauch um die Hälfte reduzieren. Für Bowlby war es hochgradig faszinierend, „dass wir allein mit Mathematik und Computersimulation zu einem völlig neuen Auto gekommen sind“.

 

In den USA, bei den Veranstaltern der IndyCar-Serie, war man davon allerdings wenig begeistert. Viel zu radikal! Bowlby ließ sich aber nicht entmutigen und klopfte im französischen Le Mans an. Und der ACO, der „Automobile Club de l’Ouest“, Ausrichter des dortigen sagenumwobenen 24-Stunden-Rennens, war angetan – so sehr, dass man Bowlby nicht nur „Garage 56“ versprach, eine Art Wildcard für Konzeptfahrzeuge außer Konkurrenz, sondern obendrein noch die Startnummer „0“ zusicherte. Bowlby ist davon noch immer gerührt, das merkt man ihm an, er spricht von „großer Ehre“, die er „so nicht erwartet“ habe. Und er erwähnt die scheinbar nebensächliche Tatsache in fast jedem Gespräch. Denn diese „0“ ist eine ganz besondere Sache – was schon dadurch illustriert wird, dass sie zuletzt 1963 vergeben wurde, vor 49 Jahren also, an den legendären Graham Hill in einem BRM Rover.

 

Als ihm die Zusage aus Le Mans im Juni 2011 zugestellt wurde, hatte Bowlby längst eine reichlich illustre Belegschaft um sich versammelt: neben Don Panoz auch Dan Gurney, Besitzer des „All American Racers“-Teams und Le-Mans-Sieger von 1967, oder Duncan Dayton, Chef von „Highcroft Racing“ – alle amerikanische Rennsportgrößen. Und sie alle unterstützen den kleinen Briten finanziell und logistisch. Bei Gurney wurde zumBeispiel die Karosserie gegossen. Man verwendete einen neuen Werkstoff namens REAMS (Recyclable Energy Absorbing Matrix System) – leichter als Carbon, genauso stark und wiederverwertbar. Ein wahrer Ökorenner entstand da. Ein Reifenpartner war mit Michelin auch bald gefunden, obwohl es eine nicht zu unterschätzende Herausforderung war, die schmalbrüstigen Vorderreifen renntauglich zu entwickeln – Vorderreifen, die Darren Cox lachend als „die Räder eines Citroen 2CV“ bezeichnet.

 

Darren Cox war schließlich der letzte fehlende Baustein. Der General Manager von Nissan Europa sagte im Herbst 2011 kurzerhand zu, die Motoren beizusteuern. „Nissan hatte den Mut und war bereit, das Risiko einzugehen“, schwärmt Bowlby, denn er weiß: „Innovation tut manchmal weh.“ Einen wie Darren Cox, Typ „Fels in der Brandung“, schreckt das naturgemäß nicht. „Nissan ist auch deshalb so erfolgreich, weil wir Dinge anders gemacht haben“, sagt er. „Wir sind da mit Ben Bowlby einig, dass wir den Menschen da draußen zeigen wollen, dass man im Rennsport auch andere Wege gehen kann.“

 

Allerdings musste man diese Wege nun sehr hurtig beschreiten. Denn erst im Januar 2012 bekam Bowlbys Crew den (dem JUKE entliehenen) 1,6-Liter-Turbo-Vierzylinder, im Februar wurde der DeltaWing in Charlotte (North Carolina) erstmals in den Windkanal gestellt, im März schließlich wurden die ersten Runden gefahren und hier, im englischen Snetterton, hat das Projekt dann endgültig den Fantasiestatus überwunden – drei Monate, bevor er bei einem der härtesten Autorennen der Welt
mitmischen und bestehen soll. Ein unglaublicher Zeitplan!

 

Einem wie Michael Krumm waren die beeindruckenden Berechnungen der Monate und Jahre zuvor sowieso egal. Der 42 Jahre alte Reutlinger ist amtierender FIA GT1-Weltmeister, der als Tourenwagen-Fahrer schon einige Erfolge in Japan feierte und im Jahr 2002 Dritter in Le Mans war. Ihm obliegt es nun, zusammen mit dem Schotten Marino Franchitti und dem Japaner Satoshi Motoyama, eine ganz besondere Aufgabe zu lösen – den DeltaWing in Le Mans zu pilotieren. Und Krumm ist aufgeregt und ziemlich stolz: „So was erleben ja die wenigsten Rennfahrer – und ich in diesem Leben sicher nie wieder: in einem völlig neuartigen Wagen sitzen zu dürfen.“

 

Auf der Strecke lässt der DeltaWing keine Fragen offen. Der 300-PS-Motor dröhnt und spuckt, wie es sich gehört, und was der Karosserie an Wucht und Höhe zu den anderen Le-Mans-Prototypen fehlt, das gleicht er durch Biestigkeit und Charme aus. Die vier Scheinwerfer sind so nebeneinander angeordnet, dass der DeltaWing von vorn aussiehtwie ein startendes Flugzeug in der Dunkelheit – beeindruckend. Die Fahrer scheuchen den Wagen auf deutlich über 300 Sachen. Michael Krumm ist unzählbar viele Runden in zig unterschiedlichen Rennautos gefahren, aber das hier, das ist auch für ihn verblüffend anders. „Ich war sehr nervös, als ich das erste Mal im DeltaWing saß“, erzählt er, „denn das fühlte sich völlig anders an als alles, was ich zuvor gemacht habe. Ich hatte schon Bedenken, überhaupt aus der Box rauszufahren.“ Bei allen anderen Autos konnte er auf eine Referenz zurückgreifen, im DeltaWing erlebte er im reifen Alter ein wirkliches erstes Mal. Aber die Aufregung legte sich umgehend. „Man lenkt ein bisschen nach rechts und nach links und merkt schnell, dass er sich benimmt wie ein normaler Rennwagen.“ Man könne sogar besser damiteinlenken und überhaupt sehr direkt lenken, was dazu führe, dass „er sich sehr präzise fahren lässt“. Auch die Angst, der Wagen könne leicht ausbrechen und unbeherrschbar werden, erwies sich als unbegründet. Einzig beim Bremsen musste sich Michael Krumm stark umstellen. Wegen der geringen Auflagefläche vorn und der ungewöhnlichen Gewichtsverteilung – knapp 75 Prozent der nicht mal 500 Kilo liegen hinten – darf er nicht erst im Scheitelpunkt der Kurve bremsen, sondern muss dies schon vorher tun, eine Umstellung, aber für drei routinierte Fahrer wie Krumm, Motoyama und Franchitti kein Problem. Dennoch wird es ein Abenteuer. Denn Bowlby hat schon jetzt hundert Dinge entdeckt, die er besser machen könnte, würde es die Zeit erlauben. Auch über die vollen 24 Stunden wird der DeltaWing erstmals in Le Mans gehen – wenn überhaupt. Denn die Chance, das Rennen zu beenden, sieht selbst Bowlby als eher gering an.

 

Dass man zudem außer Konkurrenz fahren wird, stört zwar Michel Krumm, der als Profisportler so etwas überhaupt nicht mag, nicht jedoch Ben Bowlby. Er hat seinen Sieg längst errungen – der DeltaWing wird ein Rennen fahren. Und Bowlby hat dann bewiesen, dass das auch mit weniger Material, weniger Sprit und zu deutlich niedrigeren Kosten zu machen ist – wie viel günstiger, will er nicht verraten, aber: „Es ist noch weniger, als man glaubt.“ Zwar könne man in Le Mans nicht gewinnen, aber die Rundenzeiten werden trotzdem gemessen. „Und vielleicht“, sagt Bowlby, „sind wir ja nicht nur kein fahrendes Hindernis, sondern sogar ein wenig schneller als manch andere.“ So etwas nennt man wohl britisches Understatement.