Dezember 2020 / GALORE / Interview

„Die Gefahr, ein Arschloch zu werden, war da.“

6. November 2020, Berlin. Albrecht Schuch steht trotz Kälte gelassen vor dem Café an der Ecke. Sein Vintage-Rennrad ist sicher an ein Geländer angeschlossen. Zum Interview hat er Käsekuchen mitgebracht, bereits in zwei Hälften geteilt. Einen Spaziergang wollen wir machen, durch den Viktoriapark in Kreuzberg. »Es könnte ein bisschen zickzack gehen, ich bevorzuge die kleineren Wege«, sagt er. Später wird er tatsächlich mal quer über eine Wiese durchs Herbstlaub stapfen. Oben an einem Aussichtspunkt dreht er sich eine dünne Zigarette, die er mehrfach mit einem Papp-Streichholz aus einem Briefchen entzünden muss. Er hört aufmerksam zu, lächelt viel, überlegt auch länger, bevor er antwortet, um die passenden Wörter zu finden. Zum Abschluss bietet er an, für weitere Fragen noch zu telefonieren. Den vereinbarten Termin dafür notiert er in ein Notizbuch.

Albrecht Schuch, es heißt, Sie bereiten sich mitunter auf Interviews und Interviewer vor. Heute auch?

Nein, leider nicht, ich war gerade für Dreharbeiten zwei Monate in Italien am Lago d’Orta und bin gerade erst zurückgekommen. Wenn ich die Zeit und Muße finde, versuche ich tatsächlich, mich auf Interviews vorzubereiten. Damit es ein Gespräch wird – und nichts Einseitiges. Auch, wenn ich für die Vorbereitung auf bestimmte Rollen verschiedensten Menschen gegenübersitze, sage ich: »Hey, lasst uns das Gespräch gleichberechtigt bestreiten, Sie dürfen auch mich alles fragen.« Ich will nicht das schale Gefühl hinterlassen, als hätte ich sie ausgenommen oder ausgesaugt.

 

Sie sagen, die Vorbereitung sei das Schönste am Beruf. Warum?

Sie ist mit das Schönste, ja. Weil ich dabei meinen Horizont erweitere, Leute und Themen kennenlerne – und zwar ganz unmittelbar, nicht nur aus dem Internet oder aus der Bibliothek. Es würde mir nicht reichen, nur aus mir selbst zu schöpfen. Deswegen treffe ich mich mit interessanten Menschen, mit Investmentbankern oder Neonazi-Aussteigern.

 

Für welche Rolle waren die Vorbereitungen am intensivsten?

Auf jeden Fall für die NSU-Verfilmung »Die Täter – Heute ist nicht alle Tage«.

 

Sie haben darin den Rechtsterroristen Uwe Mundlos gespielt.

Weit oben ist auch » Bad Banks «, dafür habe ich mit sieben oder acht Investmentbankern gesprochen. Einer war noch Student an einer privaten Wirtschafts-Uni, noch grün hinter den Ohren, voller Feuer für diese Welt. Der träumte noch. Ein anderer war schon ernüchtert, sagte, dass früher alles besser war. Zu einem der Treffen sollte ich einen Anzug tragen, damit sie mich unerkannt und heimlich durch ihre Abteilung führen konnten, denn das ist eine Art Hochsicherheitstrakt, in dem keine Besucher gestattet sind. Ich habe mich im ICE umgezogen, allerdings erst kurz vor der Ankunft in Frankfurt, denn ich wollte ja in die Rolle schalten, bin dort also als Banker ausgestiegen. Diese Leute wirkten übrigens alle sehr sympathisch, weil sie ja Verführer sind. So charmant, energetisch und aufgeladen, dass man sagt: »Ja, kaufe ich. Ich vertraue dir.« In der Welt der Investmentbanker wird dem Kunden das Gefühl gegeben, man habe hier einen guten Freund, der wirklich zuhört. Woraufhin sich der Kunde so wohlfühlt, dass er zwei Millionen rüberschickt.

 

Wie bereiteten Sie sich bei der neuen Verfilmung von »Berlin Alexanderplatz« auf die Rolle des Drogendealers Reinhold vor?

Da muss ich erst mal überlegen. Das gehört auch dazu: Dass man es irgendwann wieder löscht. Ja, ich wollte mich dem Reinhold von außen annähern. Sonst gehe ich immer von innen nach außen, suche also erst mal in mir. In diesem Fall habe ich mir viele Bilder der Berliner Loveparade in den 90er-Jahren angeschaut. Ich habe in Filmen und auf Fotos nach Gesichtern Ausschau gehalten, die durch verschiedene Substanzen irgendwie entgleist waren. Ich habe auf die Körperlichkeit geachtet, die dadurch entsteht, das hat oft etwas Schlaksiges und Schnelles, auch Rattiges, ich musste an Laborratten denken, warum auch immer. Ich sah auch oft Nervosität, eine dünne Haut, die Angst davor, verletzt zu werden. Dann kam ich auf David Bowie, in der Zeit, als er einmal im Monat seine äußere Erscheinung komplett gewechselt hat und dabei eine gewisse Androgynität ausstrahlte. Die hat mich wahnsinnig interessiert, weil ich diesen Reinhold als geschlechtslos empfand. Ich habe mir aber auch Gustaf Gründgens angesehen, mit Blick auf die Ambivalenz eines Künstlers, der sich von den Nazis hat einspannen lassen. Aber mit Fokus auf seinen Schalk, diese Blicke, die er in Interviews hatte. Ich habe mich für diesen Film so häufig wie noch nie mit einem Regisseur getroffen. Burhan Qurbani und ich waren allein acht Mal auf einem Friedhof.

 

Warum auf einem Friedhof?

Weil es da ruhig ist. Und weil dort das Teuflische als Gegenentwurf zum Himmlischen präsent ist. Ich habe aus Reinholds Sicht auf die Inschriften geschaut: Vertraue mir, komm zu mir – diese Sätze bekamen plötzlich etwas Dämonisches. Zur Vorbereitung gehörte auch, dass ich nach der vorherigen Arbeit länger krank war, und diese Schwäche haben wir mit in meine Darstellung des Reinhold reingenommen. Weil ich eigentlich recht fit bin, hätte ich für den Charakter einiges abtrainieren müssen, um quasi ungesünder zu wirken. Das ist durch die Erkrankung zuvor weggefallen.

 

Wie kam es, dass Sie gleich drei Monate lang krank waren?

Daran war ich selbst schuld. »Systemsprenger« war eine herausfordernde Arbeit, und es kommt oft vor, dass man nach einer so intensiven Zeit erst mal krank wird. Am Theater ist mir das auch ab und an passiert, dann musst du dich drei Tage hinlegen, danach ist es wieder gut. In diesem Fall wollte ich mir den Urlaub nicht nehmen lassen, bin mit Fieber mit dem Snowboard auf die Piste. Und dann ist es richtig reingefahren.

 

Wie lange dauern Ihre Vorbereitungsphasen?

Bei »Berlin Alexanderplatz« waren es vier Monate. Du schleppst das alles ja immer mit dir rum, beobachtest selektiv. So, wie wir jetzt hier stehen … (schaut sich unter den Spaziergängern im Park um) Der mit der blauen Jacke, diese leichten X-Beine, diese Art zu laufen, zu wippen, rechts-links – wäre das was für Reinhold? Ich lasse mich auch gerne in Museen, Konzerten, im Theater oder Kino inspirieren. Dann muss mir oft sagen: »Guck doch einfach mal den Film an und hör auf, an die Arbeit zu denken.« Der letzte Schritt des Weges von außen nach innen waren dann Sitzungen mit Psychologen, da bin ich zum inneren Kern von Reinhold vorgedrungen. Das waren Vier-Augen-Gespräche mit Verhaltenstherapeuten oder Psychoanalytikern, ich stellte ihnen den Charakter vor, sagte, was ihm passiert ist, was er tut und was ich darüber denke. Das ist keine äußere Recherche mehr, das muss ich dann in mich reinlassen.

 

Wann endet die Vorbereitung?

Drei Wochen vor Drehbeginn heißt es: weg damit! Irgendwann hat sich das Unterbewusstsein das herausgefiltert, was wichtig ist. Ich habe bei meinen ersten Projekten zweimal den Fehler gemacht, mit allem, was ich vorbereitet hatte, ans Set zu kommen. Dann schleppt man ein Gewicht herum und verliert den Blick für das, was auch immer dabei sein sollte: die Überraschung.

 

Ist man ohne so eine so intensive Vorbereitung ein schlechterer Schauspieler?

Das würde ich nicht sagen, sicher geht’s auch ohne. Es gibt Kollegen, die lernen nur ihren Text und sind dann messerscharf und wahnsinnig gut. Mir aber würde der Beruf dann nur halb so viel Spaß machen. Es wäre für mich verschenkt, mich nicht auf die Suche nach diesem Schatz zu begeben. Was ich dagegen nicht mag, ist, wenn Kollegen sich schlecht benehmen und nach unten treten. Dann denke ich: Hey, wo ist die Demut? Warum trittst du hier so an? 90 Prozent der Schauspieler dieses Landes müssen sehen, wo sie bleiben und können nur schwer davon leben. Dieser Beruf ist so schön und so viele wollen ihn machen, also lasst uns doch gemeinsam eine schöne Zeit haben.

 

Es war eben schon die Rede von der Rolle des NSU-Terroristen Uwe Mundlos. Wie bereitet man sich auf jemanden vor, der so gar nichts Menschliches zu besitzen scheint, um ihn dann »unerträglich sympathisch« darzustellen, wie ein Kritiker schrieb?

Ich will ihn ja nicht suggestiv spielen, also nicht in der Art, wie bestimmte Medien Überschriften suchen, um Leser oder Zuschauer anzulocken. Um von diesen Überschriften wegzukommen, musste ich ihm zugestehen, dass er zumindest mal ein Jemand mit menschlichen Zügen gewesen sein muss.

 

Sie haben auch mit Nazi-Aussteigern gesprochen.

Ich habe viel gelesen, aber die Begegnung mit den Menschen ist natürlich viel erhellender, direkter, anschaulicher, greifbarer. Mich interessieren dann auch vermeintliche Alltäglichkeiten wie: Wann bist du damals ins Bett gegangen, wie viel hast du geschlafen, was hast du konsumiert?

 

Spielt es eine Rolle, wann ein Nazi ins Bett geht?

Bestimmt, denn wenn man einem anderen eine Ideologie einimpfen will, dann darf der Geist nicht von irgendwelchen Substanzen getrübt sein. Man muss klar sein. Wenn man die Nacht davor gesoffen hat, ist man langsamer, unkonkreter. Man ist nicht überzeugend, kann nicht auf sein Gegenüber eingehen. Der Alltag solcher Charaktere interessiert mich schon sehr.

 

Nach diesem Film ging es Ihnen nicht gut. Was war passiert?

Man schleppt ja eine ganze Menge mit sich rum. Wenn du dich so viel in diese Lektüre einarbeitest, zum ersten Mal »Mein Kampf« liest und das alles mit diesem Mundlos’schen Blick – das hinterlässt Spuren, weil du dich immer mehr darauf einlässt. Es färbt zwar nichts ab von dem Gedankengut, aber es bedeutet schon eine Art Ermüdung. Man findet immer wieder Fusseln und merkt: Hier habe ich vergessen aufzuräumen. Und manchmal schläft man dann schlecht.

 

Seither bereiten Sie nicht nur vor, sondern auch nach.

Ich musste das Wiederauftauchen lernen. Nach der Mundlos-Rolle dachte ich: »Das war easy, einmal geschnipst und weiter geht’s.« Aber das war ein Irrtum. Das hatte auch mit Jena zu tun, wo ich geboren und groß geworden bin, wo wir viel gedreht hatten. So ergab sich bei dieser Rolle auch noch eine seltsame persönliche Ebene. An der Schauspielschule wird dir beigebracht, wie du an etwas näher rankommst, noch tiefer, authentischer und extremer. Aber keiner erklärt dir, wie es wieder zurück geht. Das soll jetzt gar nicht pathologisch klingen, als wenn man nachher ein Wrack wäre oder so. Aber es hinterlässt durchaus Spuren, wenn man nicht aufräumt. Jedes Spiel, das man über eine lange Zeit betreibt, kann ernst werden. Es kann zu Stimmungsschwankungen führen. Deshalb wollte ich für »Berlin Alexanderplatz« Rituale einüben. Um nach dem Drehende den Schalter umlegen zu können.

 

Welche sind das?

Zum Beispiel etwas, das ich » Rollendusche « nenne. Dazu nutze ich Atemtechniken, mache Yoga, führe aber auch Selbstgespräche. Oft nur ein, zwei einfache Sätze. Morgens erst »Hallo Albrecht, jetzt geht‘s zu Reinhold, viel Spaß!«, und abends dann »Schönen Abend, Reinhold, bis morgen!« – »Alles klar, Albrecht, bis dann!« So in der Art. Was ich genau sage, bleibt mein Geheimnis. Ich bin auch oft schwimmen gegangen. Wir vergessen ja in Stress-Situationen sehr oft zu atmen, werden kurzatmig. Deshalb habe ich vor dem Sprung ins Wasser tief ausgeatmet, mir wurde bewusst, wo ich wirklich bin. Dann rein ins Wasser – und schon blieb die Rolle wie eine abgestreifte Haut auf den ersten zwei Metern zurück. Das hat sehr gut funktioniert.

 

Sie wirken in Ihren Rollen physisch sehr präsent. Diese Körperlichkeit ist Ihnen wichtig, oder?

Total. Das Körperliche kommt auch sehr vom Theater. Ich achte auch darauf, was ich anhabe, denn das macht ja etwas mit der Stabilität des Körpers. Schuhe sind mir extrem wichtig, verbunden mit der Frage: Wie läuft dieser Jemand in diesen Schuhen? Die Filmfigur Uwe Mundlos kann nicht irgendwelche Sneakers tragen. Und wenn er sie trägt, dann muss klar sein, warum er das tut. Eine weite Hose macht was anderes als eine enge. Und wenn es eine enge Hose ist, dann macht wiederum der Stoff viel aus. Auch die Grundkonstitution eines Körpers ist sehr wichtig, deshalb der Blick auf den Alltag der Figur: Trainiert er viel? Trinkt er sein Feierabendbier? Was isst er? Denn verschiedenes Essen macht unterschiedlich müde oder wach. Das fließt alles mit ein.

 

Wenn man auf Ihre Vita blickt, scheint es immer nach oben zu gehen – bis hin zu zwei Deutschen Filmpreisen 2020 für die Beste Haupt- und die Beste Nebenrolle. Sind Sie ein Glückskind?

Glück gehört in diesem Beruf immer dazu. Glück ist es, gesehen zu werden. Es gibt so viele talentierte Kollegen, die ungesehen bleiben.

 

Hatten Sie Zweifel, ob Sie dieses Glück haben würden?

Ja, ich habe nach einem der frühen Filme gedacht: »Nie wieder!« Ein halbes Jahr lang wollte ich nichts mehr mit Film zu tun haben. Das Schöne ist, dass mich diese Erfahrung stärker gemacht hat, weil ich daraus viel lernen konnte. Zum Beispiel, wie wichtig eben die Vorbereitung ist. Oder dass man sich mitteilen sollte, wenn etwas nicht stimmt. Ich war noch zu unerfahren, hatte nicht den Mut, Fragen zu stellen. Ich dachte, es sei ein Zeichen von Schwäche. Ich bin froh, dass ich irgendwann begriffen habe, dass ich nicht alles alleine machen muss.

 

Haben Sie Angst, dass irgendwann ein Karriereknick kommt?

Die Angst hatte ich früher mal, jetzt ist es eher ein nüchternes Bewusstsein darüber, dass es wohl nicht ewig so weitergehen kann. Denn ich werde ja wirklich verwöhnt mit tollen Aufgaben, mit Vertrauen und Freiheiten. Es wird auch wieder anders kommen, aber darauf bin ich vorbereitet. Ich beschäftige mich viel damit, was mit Menschen passiert, die Erfolg haben. Wie sie dann innerlich abheben oder
müde werden.

 

Inwiefern sind Sie darauf vorbereitet?

Ich hoffe, dass ich es dann sportlich nehme, und ich habe ja auch noch andere Interessen. Zum Beispiel die Natur. Vielleicht werde ich Förster, Landwirt oder Gärtner. Oder ich biete Wanderungen an, was auch immer. Letztlich muss man die eigene Persönlichkeit verteidigen, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg.

 

Bei den Dreharbeiten zum Film »Kruso« in Litauen haben Sie sich manchmal ein Fahrrad genommen, sind am Set herumgefahren und haben die Leute gefragt, wie es ihnen geht. Das klingt, als wären Sie ein sehr netter, sozialer Mensch.

Empathie ist für mich ein großer menschlicher Wert, den ich aber auch für meine Arbeit brauche. Ich mag eine gute Stimmung am Set. Das heißt nicht, dass es nicht auch mal krachen darf, solange es um Inhalte geht und man sich hinterher entschuldigt. Während des Drehs sind viele seltsame Dinge passiert, ein Auto hat gebrannt, es gab hitzige Diskussionen. Und auch das Wetter war schlimm, extrem wechselhaft. Das hat bei uns allen an der Substanz gekratzt. Zudem war mein Charakter jemand, der die Leute zusammenhält. Deshalb passte das.

 

Wann erlebt man Sie schlecht gelaunt?

Häufiger, denn ich bin niemand, der alles weiß und sich immer gut benimmt. Natürlich werde ich auch mal laut, bin auch mal angepisst – und zeige das dann auch. Ich kann Leuten sehr gut die kalte Schulter zeigen (lacht). Glücklicherweise passiert das nur in Ausnahmefällen.

 

Hätten Sie auch ein Kollegenschwein werden können?

Die Gefahr, ein Arschloch zu werden, war auf jeden Fall mal da. Wenn du einmal von etwas Schillerndem gekostet hast, dann kann dich das total irreführen. Da muss man sofort gegenlenken und sagen: »Leute, ich bin’s nur, alles easy.« Das sagt man jetzt nicht wörtlich so, aber man verhält sich entsprechend. Damit man gar nicht erst in irgendeine Hybris-Scheiße kommt – oder eben zum Kollegenschwein wird.

 

Die Erfahrung mit einer echten Droge machten Sie 2012. Nach den Dreharbeiten zu »Die Vermessung der Welt« in Ecuador reisten Sie zu einem Stamm der indigenen Sarayacu, verbrachten dort zehn Tage, um Ayahuasca zu probieren.

Ich brauchte Abstand vom Dreh. Ich hatte vom Land noch nichts mitbekommen, sondern immer nur diese Postkartenpanoramen gesehen. Also bin ich dort hingereist, als eine Art Öko-Tourist. Ich hatte mich vorher schlaugemacht und wusste, dass diese Stämme Ayahuasca nutzen, um mit der Natur zu kommunizieren. Das ist deren größte Gottheit, was mir sympathisch war. Nach vier Tagen hat der Medizinmann gesagt: » Okay, du kannst es machen. « Er hatte mich beobachtet und geschaut, ob ich bereit dafür war. Denn die Droge kann gefährlich sein und die Persönlichkeit verändern, wenn man nicht mit sich im Reinen ist.

 

Wie lief das dann ab?

Man sitzt ums Feuer, der Medizinmann auf einem riesigen geschnitzten Thron. Vor ihm stand ein Holzstumpf, dorthin wird man zum Gespräch gebeten, es gibt ein wenig Weihrauch. Das Gespräch hat mich beeindruckt: Als hätte er meinem Körper zugehört und versucht, einen nicht-intakten Beat herauszufinden. Dann hat er versucht, diesen durch Anpusten und Anklopfen wieder anzuschieben. Dann trank ich den Sud – und es ging los. Ich sah viele Bilder, während ich in diesem Kreis saß, drei Stunden lang – und irgendwann war alles wieder friedlich. Es herrschte eine große Klarheit. Das war Frische und Reinheit, als hätte man 20 Liter Wasser getrunken, wäre fünfmal in der Sauna gewesen, danach noch baden im eiskalten See.

 

Die Sarayacu beeindruckten Sie wegen ihrer Beziehung zur Natur.

Die Natur ist immer ein Ding. Es ist doch erstaunlich, dass es jeder so empfindet, der einen Spaziergang im Herbstlaub macht, durch einen wirklich wilden Wald geht oder am Meer steht. Da ist diese Kraft, die etwas total Befreiendes in uns auslösen kann. Die Natur ist meine Droge, die brauche ich sehr oft. Ich mag die Stille. Weil mich eine Großstadt zwar anzieht, aber auch überfordert und abstößt. Dann ist die Natur immer wieder ein Zurückkommen, ein Aufladen, ein Ankommen.

 

Um noch mehr draußen zu sein, haben Sie sich kürzlich einen alten Bus umgebaut.

Keinen alten Bus, sondern einen ehemaligen Gasflaschentransporter. So einen Sprinter, den haben mein Schwager und ich ausgebaut und teilen ihn uns. Wir waren jetzt gerade in der Schweiz, in Sils Maria, am Malojapass, dann ging‘s weiter nach Italien, schließlich noch Reiten in der Camargue. Die nächste Tour soll nach Finnland gehen. Campingplätze versuche ich dagegen zu meiden, so lange es noch geht. Da frage ich lieber den Bauern, ob’s cool ist, mich auf seinen Acker zu stellen, als dass ich mich in die Reihenhaussiedlung der Camper einfüge. In Frankreich mussten wir mal vier Tage auf den Campingplatz, das war interessant, diesen Kosmos zu erleben.

 

Da gab es für Sie sicher viel zu beobachten.

Die Dauercamper, die der kurzen Wege wegen auf jeden Fall neben dem Klo stehen wollen. Die Freunde, die sich seit zehn Jahren dort treffen. Einmal war unsere Batterie kaputt, da standen ein Ukrainer, ein Franzose und ein Belgier um uns herum und haben ihren Senf dazugegeben. Was irgendwann in großem Gelächter endete. Aber Natur sieht man da halt nicht. Höchstens die Natur der Menschen.

 

Was mich bei meiner Vorbereitung auf Sie gewundert hat: Nirgends liest man etwas über Ihr Privatleben. Ist das Absicht? Oder hat nur keiner gefragt?

Beides. Das ist persönlich, da schaue ich schon, was ich für mich behalte. Was wollen Sie denn wissen?

 

Zum Beispiel: Wie wohnen Sie?

Was schätzen Sie denn?

 

Hm, vielleicht in einem Viertel wie dem Bergmannkiez, 80 Quadratmeter, schöner
sanierter Altbau.

(lacht) Es sind 40 Quadratmeter am Hermannplatz.

 

40? Da leben Sie sicher allein.

Teils, teils. Wir leben mal bei meiner Freundin, mal bei mir. Ich hab‘s noch nicht geschafft, da auszuziehen. Ich mag diese kleine Höhle.

 

Und wie ist die Höhle eingerichtet?

Die Möbel sind zusammengewürfelt, eine Kommode aus der ersten WG meiner Schwester, die Stühle habe ich von den Eltern meiner Freundin bekommen, eine alte Industrielampe, eine Büste. Und ich habe viele Bilder an der Wand: von Freunden, Familie, Freddie Mercury, Larry Clark, Helmut Qualtinger, ein Bild meiner Großeltern, eines von meiner Schwester und mir, wie ich ihr die Haare mache, als Dreijähriger. Dann ein Literaturkalender, ein costa-ricanisches Nummernschild, das ich im Fluss gefunden habe, als wir mit dem Jeep durchgefahren sind. In der Küche steht die 08/15-Stereoanlage, die habe ich, seitdem ich zwölf bin. Auf der habe ich schon meine ersten Kassetten gehört, mit vielen ausgeblichenen Aufklebern vorne darauf. In der Küche stehen auch 15 verschiedene Honiggläser. Ich liebe Honig, ich schwöre darauf. Als Medikament und als Genussmittel.